URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)

17. Oktober 2013 ( *1 )

„Richtlinie 2003/87/EG — System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten — Sanktion wegen Emissionsüberschreitung — Begriff der Emissionsüberschreitung — Gleichsetzung mit einer Verletzung der Verpflichtung, innerhalb der von der Richtlinie vorgeschriebenen Fristen eine zur Abdeckung der Emissionen des Vorjahres ausreichende Zahl von Zertifikaten abzugeben — Fehlen eines Befreiungsgrundes, wenn über die nicht abgegebenen Zertifikate tatsächlich verfügt wurde, abgesehen vom Fall höherer Gewalt — Unmöglichkeit der Anpassung der Sanktion — Verhältnismäßigkeit“

In der Rechtssache C‑203/12

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Högsta domstolen (Schweden) mit Entscheidung vom 24. April 2012, beim Gerichtshof eingegangen am 30. April 2012, in dem Verfahren

Billerud Karlsborg AB,

Billerud Skärblacka AB

gegen

Naturvårdsverket

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta sowie der Richter J. L. da Cruz Vilaça, G. Arestis, J.‑C. Bonichot (Berichterstatter) und A. Arabadjiev,

Generalanwalt: P. Mengozzi,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der Billerud Karlsborg AB und der Billerud Skärblacka AB, vertreten durch E. Wernberg und O. Gentele, advokater,

der Naturvårdsverket, vertreten durch R. Janson und U. Gunnesby, advokater,

der hellenischen Regierung, vertreten durch V. Kyriazopoulos und M. Vergou als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch J. Enegren, K. Mifsud-Bonnici und E. White als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 16. Mai 2013

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 16 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 2003/87/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Oktober 2003 über ein System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten in der Gemeinschaft und zur Änderung der Richtlinie 96/61/EG des Rates (ABl. L 275, S. 32).

2

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Billerud Karlsborg AB und der Billerud Skärblacka AB (im Folgenden gemeinsam: Billerud-Gesellschaften) und der Naturvårdsverket (Umweltschutzagentur) über die von Letzterer gegen diese Gesellschaften verhängte Sanktion wegen nicht rechtzeitiger Abgabe der Zertifikate für das Kohlendioxidäquivalent in Höhe ihrer tatsächlichen Emissionen im Jahr 2006.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Richtlinie 2003/87

3

Die Erwägungsgründe 5 bis 7 der Richtlinie 2003/87 lauten:

„(5)

Die Gemeinschaft und ihre Mitgliedstaaten sind übereingekommen, ihre Verpflichtungen zur Verringerung der anthropogenen Treibhausgasemissionen im Rahmen des Kyoto-Protokolls … gemeinsam zu erfüllen. Diese Richtlinie soll dazu beitragen, dass die Verpflichtungen der Europäischen Gemeinschaft und ihrer Mitgliedstaaten durch einen effizienten europäischen Markt für Treibhausgasemissionszertifikate effektiver und unter möglichst geringer Beeinträchtigung der wirtschaftlichen Entwicklung und der Beschäftigungslage erfüllt werden.

(6)

Durch die Entscheidung 93/389/EWG des Rates vom 24. Juni 1993 über ein System zur Beobachtung der Emissionen von CO2 und anderen Treibhausgasen in der Gemeinschaft [ABl. L 167, S. 31] wurde ein System zur Beobachtung der Treibhausgasemissionen und zur Bewertung der Fortschritte bei der Erfüllung der Verpflichtungen im Hinblick auf diese Emissionen eingeführt. Dieses System wird es den Mitgliedstaaten erleichtern, die Gesamtmenge der zuteilbaren Zertifikate zu bestimmen.

(7)

Gemeinschaftsvorschriften für die Zuteilung der Zertifikate durch die Mitgliedstaaten sind notwendig, um die Integrität des Binnenmarktes zu erhalten und Wettbewerbsverzerrungen zu vermeiden.“

4

In Art. 4 dieser Richtlinie heißt es:

„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass ab dem 1. Januar 2005 Anlagen die in Anhang I genannten Tätigkeiten, bei denen die für diese Tätigkeiten spezifizierten Emissionen entstehen, nur durchführen, wenn der Betreiber über eine Genehmigung verfügt …“

5

Art. 6 Abs. 2 dieser Richtlinie sieht vor:

„Genehmigungen zur Emission von Treibhausgasen enthalten folgende Angaben:

e)

eine Verpflichtung zur Abgabe von Zertifikaten in Höhe der … Gesamtemissionen der Anlage in jedem Kalenderjahr binnen vier Monaten nach Jahresende.“

6

Art. 10 der Richtlinie 2003/87 stellt den Grundsatz auf, dass vom 1. Januar 2005 bis zum 1. Januar 2008 mindestens 95 % der Zertifikate und dann vom 1. Januar 2008 bis zum 1. Januar 2013 mindestens 90 % der Zertifikate kostenlos zugeteilt werden.

7

Art. 11 Abs. 4 der Richtlinie bestimmt:

„Die zuständige Behörde vergibt einen Teil der Gesamtmenge der Zertifikate bis zum 28. Februar jeden Jahres …“

8

Art. 12 der Richtlinie, der die Übertragung, Abgabe und Löschung von Zertifikaten betrifft, sieht in Abs. 3 vor:

„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass der Betreiber für jede Anlage bis spätestens 30. April jeden Jahres eine Anzahl von Zertifikaten abgibt, die den … Gesamtemissionen der Anlage im vorhergehenden Kalenderjahr entspricht, und dass diese Zertifikate anschließend gelöscht werden.“

9

Der Verstoß gegen diese Verpflichtung wird, abgesehen von der in Art. 16 Abs. 2 der Richtlinie vorgesehenen Veröffentlichung der Namen der säumigen Betreiber, mit einer Sanktion nach Art. 16 Abs. 3 und 4 geahndet; diese lauten:

„(3)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Betreibern, die nicht bis zum 30. April jeden Jahres eine ausreichende Anzahl von Zertifikaten zur Abdeckung ihrer Emissionen im Vorjahr abgeben, eine Sanktion wegen Emissionsüberschreitung auferlegt wird. Die Sanktion wegen Emissionsüberschreitung beträgt für jede von der Anlage ausgestoßene Tonne Kohlendioxidäquivalent, für die der Betreiber keine Zertifikate abgegeben hat, 100 [Euro]. Die Zahlung der Sanktion entbindet den Betreiber nicht von der Verpflichtung, Zertifikate in Höhe dieser Emissionsüberschreitung abzugeben, wenn er die Zertifikate für das folgende Kalenderjahr abgibt.

(4)   Während des am 1. Januar 2005 beginnenden Dreijahreszeitraums verhängen die Mitgliedstaaten für jede von der Anlage ausgestoßene Tonne Kohlendioxidäquivalent, für die der Betreiber keine Zertifikate abgegeben hat, eine niedrigere Sanktion wegen Emissionsüberschreitung in Höhe von 40 [Euro]. …“

10

Überdies heißt es in Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2003/87:

„Die Mitgliedstaaten legen Vorschriften über Sanktionen fest, die bei einem Verstoß gegen die gemäß dieser Richtlinie erlassenen nationalen Vorschriften zu verhängen sind, und treffen die notwendigen Maßnahmen, um die Durchsetzung dieser Vorschriften zu gewährleisten. Die Sanktionen müssen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein. …“

11

Art. 19 dieser Richtlinie schreibt wie folgt vor, dass Gemeinschaftsregister zu führen sind:

„(1)   Die Mitgliedstaaten sorgen für die Einrichtung und Aktualisierung eines Registers, um die genaue Verbuchung von Vergabe, Besitz, Übertragung und Löschung von Zertifikaten zu gewährleisten …

(3)   Im Hinblick auf die Durchführung dieser Richtlinie erlässt die Kommission … eine Verordnung über ein standardisiertes und sicheres Registrierungssystem in Form standardisierter elektronischer Datenbanken mit gemeinsamen Datenelementen zur Verfolgung von Vergabe, Besitz, Übertragung und Löschung von Zertifikaten, zur Gewährleistung des Zugangs der Öffentlichkeit und angemessener Vertraulichkeit und um sicherzustellen, dass keine Übertragungen erfolgen, die mit den Verpflichtungen aus dem Kyoto-Protokoll unvereinbar sind.“

Verordnung (EG) Nr. 2216/2004

12

Die Verordnung (EG) Nr. 2216/2004 der Kommission vom 21. Dezember 2004 über ein standardisiertes und sicheres Registrierungssystem gemäß der Richtlinie 2003/87 sowie der Entscheidung 280/2004/EG des Europäischen Parlaments und des Rates (ABl. L 386, S. 1) sieht in ihrem Art. 52 („Rückgabe von Zertifikaten“) vor:

„Ein Betreiber gibt Zertifikate für eine Anlage dadurch zurück, dass er beim Registerführer beantragt bzw., wenn dies in den Rechtsvorschriften des jeweiligen Mitgliedstaates vorgesehen ist, dass davon ausgegangen werden kann, dass er beantragt,

a)

eine bestimmte Anzahl von Zertifikaten für ein bestimmtes Jahr von dem jeweiligen Betreiberkonto des Registers auf das Konto der Vertragspartei zu übertragen

b)

und die Anzahl der übertragenen Zertifikate in den Abschnitt der Tabelle für zurückgegebene Zertifikate einzutragen, die für die jeweilige Anlage und das jeweilige Jahr bestimmt sind.

…“

Schwedisches Recht

13

Durch das Gesetz 2004:1199 über den Handel mit Emissionszertifikaten und die Vorschriften 2004:8 über die Zertifikatsregister wurden die oben angeführten Bestimmungen des Unionsrechts umgesetzt.

14

Kapitel 6 § 1 des Gesetzes 2004:1199 sieht in der auf den Sachverhalt des Ausgangsrechtsstreits anwendbaren Fassung vor:

„Für jede Anlage gibt der Betreiber spätestens am 30. April bei der mit der Führung des Registers betrauten Behörde eine Anzahl von Zertifikaten ab, die den Gesamtemissionen dieser Anlage im vorhergehenden Kalenderjahr entspricht.“

15

Kapitel 8 § 6 dieses Gesetzes bestimmt:

„Ein Betreiber, der keine zur Abdeckung seiner Emissionen ausreichende Anzahl an Zertifikaten gemäß Kapitel 6 § 1 abgegeben hat, muss dem Staat eine Sanktion wegen Emissionsüberschreitung zahlen. Für den Zeitraum von 2005 bis 2007 beläuft sich diese Sanktion auf einen Betrag, der 40 Euro je Tonne Kohlendioxid entspricht, die von der Anlage ausgestoßen wurde und für die der Betreiber keine Zertifikate abgegeben hat. Für spätere Zeiträume beläuft sich dieser Betrag auf 100 Euro. Der Gegenwert in schwedischen Kronen bemisst sich nach dem Wechselkurs des Euro am 1. Mai des Jahres, in dem die Abgabe erfolgt.“

16

Kapitel 8 § 7 dieses Gesetzes sieht vor:

„Die Zahlung der Sanktion wegen Emissionsüberschreitung gemäß § 6 entbindet den Betreiber nicht von der Verpflichtung nach Kapitel 6 § 1, der mit der Führung des Registers betrauten Behörde bei der Abgabe der Zertifikate für das folgende Kalenderjahr Zertifikate in Höhe dieser Emissionsüberschreitung abzugeben.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

17

Zum 30. April 2007 hatten die Billerud-Gesellschaften, bei denen es sich um Gesellschaften schwedischen Rechts handelt, die über Genehmigungen für den Ausstoß von Kohlendioxid verfügten, die Zertifikate in Höhe ihrer Emissionen im Jahr 2006, nämlich 10828 bzw. 42433 Tonnen, nicht abgegeben.

18

Die Naturvårdsverket verhängte daher die im Gesetz 2004:1199 zur Umsetzung der Richtlinie 2003/87 vorgesehene Sanktion in Höhe von 3959366 schwedische Kronen (SEK) gegen die eine Gesellschaft und in Höhe von 15516051 SEK gegen die andere Gesellschaft, d. h. 433120 Euro und 1697320 Euro.

19

Die Billerud-Gesellschaften fochten diese Sanktion vor einem nationalen Gericht mit dem Argument an, ihre Transaktionskonten im schwedischen Emissionszertifikateregister hätten zum 30. April 2007 eine ausreichende Anzahl an Zertifikaten zur Abdeckung ihrer Gesamtemissionen im Jahr 2006 aufgewiesen. Dieser Umstand beweise, dass sie nicht beabsichtigt hätten, sich ihren Verpflichtungen zu entziehen, und dass die ihnen vorgeworfene nicht rechtzeitige Abgabe auf unternehmensinterne administrative Versäumnisse zurückzuführen sei. Das erstinstanzliche Gericht folgte dieser Argumentation nicht.

20

Der Högsta domstolen, bei dem die Billerud-Gesellschaften Berufung einlegten, hat das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.

Ist Art. 16 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 2003/87 zu entnehmen, dass ein Betreiber, der am 30. April keine ausreichende Anzahl von Emissionszertifikaten abgegeben hat, ungeachtet der Ursache für das Versäumnis, wenn beispielsweise der Betreiber am 30. April zwar über eine ausreichende Anzahl von Zertifikaten verfügte, sie aber aufgrund eines Versehens, eines Versäumnisses seiner Verwaltung oder eines technischen Problems nicht zu diesem Zeitpunkt abgab, eine Sanktion zahlen muss?

2.

Ist – falls Frage 1 bejaht wird – Art. 16 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 2003/87 zu entnehmen, dass die Sanktion z. B. in einem Fall wie dem in Frage 1 dargestellten erlassen oder angepasst werden muss oder kann?

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

21

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 16 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 2003/87 dahin auszulegen ist, dass er eine gewisse Toleranz bei der Verhängung von Sanktionen wegen Emissionsüberschreitungen gegenüber Betreibern erlaubt, die zwar ihre Zertifikate für das Kohlendioxidäquivalent des Vorjahres nicht bis zum 30. April des laufenden Jahres abgegeben haben, aber zu diesem Zeitpunkt über eine ausreichende Anzahl von Zertifikaten verfügen.

22

Diese Frage läuft darauf hinaus, ob der Begriff der sanktionsbewehrten „Emissionsüberschreitung“ so zu verstehen ist, dass er auf ein normüberschreitendes umweltverschmutzendes Verhalten an sich abstellt, so dass die Sanktion nur von Betreibern zu zahlen wäre, die am 30. April jeden Jahres nicht über eine ausreichende Anzahl von Zertifikaten verfügen, oder ob es bei diesem Begriff im Gegenteil nur auf die nicht bis zum 30. April erfolgte Abgabe von Zertifikaten in Höhe der Emissionen des Vorjahres ankommt, ungeachtet der Ursache der Nichtabgabe oder der Anzahl der Zertifikate, über die die betreffenden Betreiber tatsächlich verfügen.

23

Die von den Billerud-Gesellschaften vertretene erste Alternative geht von einem am Wortlaut orientierten Verständnis des Ausdrucks „Emissionsüberschreitung“ in Art. 16 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 2003/87 aus, wonach die tatsächliche Innehabung einer zur Abdeckung der Emissionen des Vorjahres ausreichenden Anzahl von Zertifikaten am 30. April des laufenden Jahres beweise, dass keine besondere Umweltbeeinträchtigung vorliege, die allein unionsrechtliche Sanktionen aufgrund des in Art. 191 Abs. 2 AEUV verankerten Verursacherprinzips rechtfertigen könne.

24

Eine solche Argumentation ist jedoch nicht überzeugend.

25

Schon aus dem Wortlaut der Richtlinie 2003/87 ergibt sich nämlich, dass die Verpflichtung, bis zum 30. April des laufenden Jahres Zertifikate in Höhe der Emissionen des Vorjahres zwecks Löschung abzugeben, besonders streng zu handhaben ist. Diese Verpflichtung, die gemäß Art. 6 Abs. 2 Buchst. e der Richtlinie zwingend in der Genehmigung zur Emission von Treibhausgasen anzugeben ist und die in Art. 12 Abs. 3 der Richtlinie unmissverständlich genannt wird, ist als Einzige in der Richtlinie 2003/87 selbst mit einer präzisen Sanktionsandrohung bewehrt, während die Sanktionen für alle anderen ihren Bestimmungen zuwiderlaufenden Verhaltensweisen nach Art. 16 der Richtlinie von den Mitgliedstaaten festzulegen sind. Dass die Richtlinie dem Verfahren der Abgabe der Zertifikate einen zentralen Platz einräumt, ergibt sich auch daraus, dass die Verhängung der Sanktion den Betreiber nicht von der Verpflichtung entbindet, die entsprechenden Zertifikate im Folgejahr abzugeben. Die einzige in der Richtlinie 2003/87 hinsichtlich dieser Sanktion vorgesehene Flexibilität betrifft ihre Höhe, die in der Probephase des Systems, d. h. in den Jahren 2005 bis 2007, von 100 Euro auf 40 Euro herabgesetzt ist.

26

Außerdem ist zu beachten, dass zwar das Endziel des Systems des Handels mit Zertifikaten im Schutz der Umwelt durch eine Verringerung der Treibhausgasemissionen besteht, doch verringert dieses System diese Emissionen nicht selbst, sondern dient dem Anreiz und der Förderung des Strebens nach geringstmöglichen Kosten, um eine Verringerung dieser Emissionen auf ein bestimmtes Niveau zu erreichen. Der letztlich eintretende Vorteil für die Umwelt hängt somit davon ab, wie streng die Gesamtmenge der zugeteilten Zertifikate festgesetzt wird, die die Obergrenze der nach diesem System zulässigen Emissionen bildet (Urteil vom 16. Dezember 2008, Arcelor Atlantique et Lorraine u. a., C-127/07, Slg. 2008, I-9895, Randnr. 31).

27

Die allgemeine Systematik der Richtlinie 2003/87 beruht somit auf einer genauen Verbuchung von Vergabe, Besitz, Übertragung und Löschung der Zertifikate, deren Rahmen in Art. 19 dieser Richtlinie festgelegt wird und die Einführung eines standardisierten Registrierungssystems im Wege einer gesonderten Verordnung der Kommission erfordert. Diese genaue Verbuchung ist Teil des eigentlichen Gegenstands der Richtlinie, nämlich der Schaffung eines Gemeinschaftssystems für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten, das auf die Verringerung der Treibhausgasemissionen in die Atmosphäre auf ein Niveau abzielt, das eine gefährliche anthropogene Beeinträchtigung des Klimas verhindert und dessen Endziel der Schutz der Umwelt ist (vgl. Urteil Arcelor Atlantique et Lorraine u. a., Randnr. 29). Wie die Kommission vorbringt, wollte der Unionsgesetzgeber durch die Einführung einer von vornherein feststehenden Sanktion das System für den Handel mit Zertifikaten vor Wettbewerbsverzerrungen aufgrund von Marktmanipulationen schützen.

28

Insoweit kann dem Vorbringen der Billerud-Gesellschaften, wonach man ihnen kein normüberschreitendes umweltschädigendes Verhalten vorwerfen könne, nicht gefolgt werden. Art. 16 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 2003/87 hat nämlich den Zweck und die Wirkung, nicht die „Umweltverschmutzer“ allgemein mit einer Sanktion zu belegen, sondern die Betreiber, deren Emissionen des Vorjahres am 30. April des laufenden Jahres die Zahl der im Abschnitt der Tabelle für zurückgegebene Zertifikate aufgeführten Zertifikate übersteigt, die im Zentralregister des Mitgliedstaats, dem sie gemäß Art. 52 der Verordnung Nr. 2216/2004 zugeordnet sind, für ihre Anlagen und für dieses Jahr bestimmt sind. So, und nicht als per se normüberschreitende Emissionen, ist der Begriff „Emissionsüberschreitung“ zu verstehen.

29

Für eine solche Auslegung spricht zum einen, dass an die Betreiber gemäß Art. 11 Abs. 4 der Richtlinie 2003/87 ein Teil der Gesamtmenge der Zertifikate des laufenden Jahres bis zum 28. Februar dieses Jahres vergeben wird, d. h. zwei Monate vor dem Zeitpunkt, zu dem die Betreiber ihre Zertifikate für das Vorjahr abgeben müssen, und zum anderen, dass die für das Jahr 2006 zugeteilten Zertifikate gemäß Art. 10 der Richtlinie fast kostenlos sind.

30

Nach alledem ist die mit der Richtlinie 2003/87 auferlegte Verpflichtung nicht als bloße Verpflichtung anzusehen, am 30. April des laufenden Jahres Zertifikate zur Abdeckung der Emissionen des Vorjahres zu besitzen, sondern als Verpflichtung, diese Zertifikate bis zum 30. April abzugeben, damit sie im Gemeinschaftsregister, das eine genaue Verbuchung der Zertifikate gewährleisten soll, gelöscht werden.

31

Jedoch kann auch bei Fehlen einer besonderen Bestimmung ein Fall höherer Gewalt anerkannt werden, wenn sich Rechtssuchende auf eine äußere Ursache berufen, deren Folgen unvermeidbar und unausweichlich sind und den Betroffenen die Einhaltung ihrer Verpflichtungen objektiv unmöglich machen (vgl. insbesondere Urteil vom 18. März 1980, Ferriera Valsabbia u. a./Kommission, 154/78, 205/78, 206/78, 226/78 bis 228/78, 263/78, 264/78, 31/79, 39/79, 83/79 und 85/79, Slg. 1980, 907, Randnr. 140). Infolgedessen hat das vorlegende Gericht zu beurteilen, ob die Billerud-Gesellschaften trotz aller möglicherweise unternommenen Anstrengungen, um die vorgeschriebenen Fristen einzuhalten, mit ungewöhnlichen und unvorhersehbaren Umständen konfrontiert waren, auf die sie keinen Einfluss hatten (vgl. Urteil vom 18. Juli 2013, Eurofit, C‑99/12, Randnr. 31) und die über ein bloßes unternehmensinternes Versäumnis hinausgehen.

32

Daher ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 16 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 2003/87 dahin auszulegen ist, dass es ihm zuwiderläuft, wenn ein Betreiber, der die Zertifikate für das Kohlendioxidäquivalent in Höhe seiner Emissionen des Vorjahres nicht bis zum 30. April des laufenden Jahres abgegeben hat, obwohl er zu diesem Zeitpunkt über eine ausreichende Anzahl von Zertifikaten verfügt, der in dieser Bestimmung vorgesehenen Sanktion wegen Emissionsüberschreitung entgeht.

Zur zweiten Frage

33

Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 16 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 2003/87 dahin auszulegen ist, dass die Höhe der in dieser Bestimmung vorgesehenen Sanktion vom nationalen Gericht unter Berufung auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit angepasst werden kann.

34

Insoweit ist zu beachten, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts gehört und verlangt, dass die von einer unionsrechtlichen Bestimmung eingesetzten Mittel zur Erreichung der mit der betreffenden Regelung verfolgten legitimen Ziele geeignet sind und nicht über das dafür Erforderliche hinausgehen (vgl. Urteil vom 8. Juni 2010, Vodafone u. a., C-58/08, Slg. 2010, I-4999, Randnr. 51).

35

In Bezug auf die gerichtliche Nachprüfung dieser Voraussetzungen ist dem Unionsgesetzgeber jedoch ein weites Ermessen einzuräumen, wenn er in einem Bereich tätig wird, in dem von ihm politische, wirtschaftliche und soziale Entscheidungen verlangt werden und in dem er komplexe Beurteilungen vornehmen muss. Daher kann der Gerichtshof bei seiner gerichtlichen Nachprüfung der Wahrnehmung einer solchen Zuständigkeit die Beurteilung des Unionsgesetzgebers nicht durch seine eigene ersetzen. Er könnte dessen gesetzgeberische Entscheidung allenfalls dann beanstanden, wenn diese offensichtlich fehlerhaft erschiene oder wenn die Nachteile, die sich aus ihr für bestimmte Wirtschaftsteilnehmer ergeben, zu den im Übrigen mit ihr verbundenen Vorteilen völlig außer Verhältnis stünden (vgl. u. a. Urteile vom 12. November 1996, Vereinigtes Königreich/Rat, C-84/94, Slg. 1996, I-5755, Randnr. 58, vom 13. Mai 1997, Deutschland/Parlament und Rat, C-233/94, Slg. 1997, I-2405, Randnr. 56, und vom 14. Dezember 2004, Swedish Match, C-210/03, Slg. 2004, I-11893, Randnr. 48).

36

Festzustellen ist, dass die unionsweite Einführung eines Systems für die Verbuchung und den Handel mit Emissionszertifikaten für das Kohlendioxidäquivalent eine gesetzgeberische Entscheidung war, in der eine im Kontext eines dringenden Bedarfs, auf schwerwiegende die Umwelt betreffende Bedenken zu reagieren, stehende politische Zielorientierung zum Ausdruck kommt, wie den Schlussfolgerungen des Rates der Europäischen Union vom 8. März 2001 zu entnehmen ist, auf die im ersten Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/87 Bezug genommen wird. Diese gesetzgeberische Entscheidung beruhte überdies auf hochkomplexen und ausführlich erörterten wirtschaftlichen und technischen Überlegungen, die im Grünbuch KOM(2000) 87 vom 8. März 2000 dargelegt wurden. Mit dem Ziel, zur Erfüllung der Verpflichtungen der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten aus dem Kyoto-Protokoll beizutragen, hatte der Unionsgesetzgeber somit Veranlassung, die künftigen und ungewissen Wirkungen seines Tätigwerdens selbst zu beurteilen und abzuwägen (vgl. entsprechend Urteil Deutschland/Parlament und Rat, Randnr. 55).

37

Das Urteil über die Verhältnismäßigkeit eines Unionsakts kann aber nicht von einer rückschauenden Würdigung seines Wirkungsgrades abhängen. Ist der Unionsgesetzgeber genötigt, die künftigen Auswirkungen einer zu treffenden Regelung zu beurteilen, und lassen sich diese Auswirkungen nicht genau vorhersehen, so kann seine Beurteilung nur dann beanstandet werden, wenn sie in Anbetracht der Erkenntnisse, über die er zum Zeitpunkt des Erlasses der fraglichen Regelung verfügte, offensichtlich irrig erscheint (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Juli 2001, Jippes u. a., C-189/01, Slg. 2001, I-5689, Randnr. 84 und die dort angeführte Rechtsprechung).

38

Die in der Richtlinie 2003/87 vorgesehene Sanktion wegen Emissionsüberschreitung kann im Licht der oben in den Randnrn. 34 bis 37 angeführten Grundsätze nicht wegen des Fehlens einer Möglichkeit für das nationale Gericht, ihre Höhe anzupassen, als gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verstoßend angesehen werden.

39

Denn zum einen erschienen dem Unionsgesetzgeber die Abgabepflicht nach Art. 12 Abs. 3 der Richtlinie 2003/87 und die pauschale Sanktion, mit der sie nach Art. 16 Abs. 3 und 4 dieser Richtlinie bewehrt ist und die keine andere Flexibilität als die vorübergehende Herabsetzung ihrer Höhe bietet, bei der Verfolgung des legitimen Ziels der Einführung eines leistungsfähigen Systems für den Handel mit Zertifikaten für das Kohlendioxidäquivalent erforderlich, um zu verhindern, dass einige Betreiber oder Mittelspersonen auf dem Markt dazu verleitet werden, das System durch missbräuchliche Spekulation in Bezug auf die Preise, Mengen, Fristen oder komplexen Finanzprodukte, die eine Begleiterscheinung jedes Marktes sind, zu umgehen oder zu manipulieren. Wie sich insbesondere aus Randnr. 17 der Begründung des von der Kommission vorgelegten Richtlinienvorschlags KOM(2001) 581 vom 23. Oktober 2001 ergibt, ist die relative Strenge der Sanktion dadurch gerechtfertigt, dass Verstöße gegen die Verpflichtung, eine ausreichende Anzahl an Zertifikaten abzugeben, in der gesamten Union schlüssig und konsequent geahndet werden müssen. Dieses Erfordernis erschien überdies während der Einführungsphase eines völlig neuen unionsweiten Systems besonders dringlich.

40

Im Übrigen ergibt sich aus der Richtlinie 2003/87, dass die Betreiber über einen Zeitraum von vier Monaten verfügen, um die Abgabe der Zertifikate für das Vorjahr zu bewerkstelligen, was ihnen eine angemessene Frist lässt, um ihrer Abgabepflicht nachzukommen. Aus der Entstehungsgeschichte dieser Richtlinie ergibt sich zudem, dass der Rat die den Betreibern ursprünglich gesetzte Frist verlängerte, denn im Vorschlag der Kommission war der 31. März als Frist genannt. Außerdem liegt die Frist des 30. April nach dem 28. Februar, an dem die Mitgliedstaaten den Betreibern einen Teil ihrer Zertifikate für das laufende Jahr zuteilen müssen, wobei zu beachten ist, dass diese Zuteilung in der Zeit von 2005 bis 2008 zu 95 % kostenlos erfolgte. Schließlich dürfte, wie in den Randnrn. 22 und 27 des vorliegenden Urteils ausgeführt worden ist, eine Sanktion von 40 Euro pro Tonne nicht bis zum 30. April abgegebenen Kohlendioxidäquivalents (ein dem Doppelten des damals geschätzten Preises dieser Tonne auf dem künftigen Markt für Verschmutzungsrechte entsprechender Wert) im Licht der Logik der unionsweiten genauen Verbuchung der Zertifikate, von der das ordnungsgemäße Funktionieren des mit der Richtlinie 2003/87 geschaffenen Systems abhängt, keine Nachteile aufweisen, die völlig außer Verhältnis zu den Vorteilen stehen, die sie im Übrigen für die Einhaltung der Verpflichtungen der Union aus dem Kyoto-Protokoll aufweist.

41

Außerdem steht es den Mitgliedstaaten frei, Mechanismen zur Mahnung, Aufforderung und vorzeitigen Abgabe einzuführen, durch die gutgläubige Betreiber umfassend über ihre Abgabepflicht informiert werden und so der Gefahr einer Sanktion entgehen können. Nach der dem Gerichtshof vorliegenden Akte sehen einige nationale Rechtsordnungen solche Vorsichtsmaßnahmen vor und betrauen die zuständigen Behörden mit der Aufgabe, die Betreiber bei ihrem Umgang mit dem System des Handels mit Treibhausgasemissionszertifikaten anzuleiten.

42

Daher ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 16 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 2003/87 dahin auszulegen ist, dass die in dieser Bestimmung vorgesehene Höhe der pauschalen Sanktion vom nationalen Gericht nicht unter Berufung auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit angepasst werden darf.

Kosten

43

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Art. 16 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 2003/87/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Oktober 2003 über ein System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten in der Gemeinschaft und zur Änderung der Richtlinie 96/61/EG des Rates ist dahin auszulegen, dass es ihm zuwiderläuft, wenn ein Betreiber, der die Zertifikate für das Kohlendioxidäquivalent in Höhe seiner Emissionen des Vorjahres nicht bis zum 30. April des laufenden Jahres abgegeben hat, obwohl er zu diesem Zeitpunkt über eine ausreichende Anzahl von Zertifikaten verfügt, der in dieser Bestimmung vorgesehenen Sanktion wegen Emissionsüberschreitung entgeht.

 

2.

Art. 16 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 2003/87 ist dahin auszulegen, dass die in dieser Bestimmung vorgesehene Höhe der pauschalen Sanktion vom nationalen Gericht nicht unter Berufung auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit angepasst werden darf.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Schwedisch.