SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

ELEANOR SHARPSTON

vom 6. Februar 2014 ( 1 )

Rechtssache C‑398/12

Procura della Repubblica

gegen

M

(Vorabentscheidungsersuchen des Tribunale di Fermo [Italien])

„Art. 54 des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen (SDÜ) — Verbot der Doppelbestrafung — Vor Eröffnung der Hauptverhandlung ergangener Einstellungsbeschluss, wonach dieselbe Person wegen derselben Tat nicht mehr strafrechtlich verfolgt werden darf — Vorbehalt der möglichen Aufhebung des Beschlusses bei Auftauchen neuer Belastungstatsachen — Strafverfolgung in einem anderen Mitgliedstaat wegen einer auf demselben Sachverhalt beruhenden Straftat“

1. 

Nach einem umfassenden Strafermittlungsverfahren lehnten die Justizbehörden eines Mitgliedstaats (Belgien) den Antrag auf Eröffnung der Hauptverhandlung gegen die von den Ermittlungen betroffene Person ab und erließen stattdessen einen Beschluss zur Einstellung des Verfahrens ( 2 ). Mit diesem Einstellungsbeschluss wurde die (potenzielle) Strafverfolgung bereits vor Eröffnung der Hauptverhandlung de facto beendet; der Beschluss kann aber nach nationalem Recht aufgehoben werden, wenn neue Belastungstatsachen auftauchen. Mit seinem Vorabentscheidungsersuchen möchte das Tribunale di Fermo (Italien) wissen, ob der Grundsatz ne bis in idem nach Art. 54 des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen ( 3 ) (SDÜ) einer Strafverfolgung der Person durch die Strafgerichte eines anderen Mitgliedstaats wegen derselben Tat entgegensteht.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

2.

Art. 3 Abs. 2 EUV bestimmt:

„Die Union bietet ihren Bürgerinnen und Bürgern einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen, in dem – in Verbindung mit geeigneten Maßnahmen in Bezug auf die Kontrollen an den Außengrenzen, das Asyl, die Einwanderung sowie die Verhütung und Bekämpfung der Kriminalität – der freie Personenverkehr gewährleistet ist.“

3.

Art. 67 Abs. 1 AEUV lautet:

„Die Union bildet einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, in dem die Grundrechte und die verschiedenen Rechtsordnungen und ‑traditionen der Mitgliedstaaten geachtet werden.“

4.

Gemäß dem zweiten Erwägungsgrund des Protokolls (Nr. 19) zum AEU-Vertrag ( 4 ) sind die Vertragsparteien bestrebt, den Schengen-Besitzstand zu wahren und „diesen Besitzstand fortzuentwickeln, um zur Verwirklichung des Ziels beizutragen, den Unionsbürgerinnen und Unionsbürgern einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen zu bieten“.

5.

Nach Art. 2 des genannten Protokolls ist der Schengen-Besitzstand, der auch das SDÜ umfasst ( 5 ), für die in Art. 1 des Protokolls aufgeführten Mitgliedstaaten anwendbar. Zu diesen gehören das Königreich Belgien und die Italienische Republik.

6.

Titel III („Polizei und Sicherheit“) des SDÜ umfasst in seinem Kapitel 3 („Verbot der Doppelbestrafung“) die Art. 54 bis 58.

7.

Art. 54 bestimmt:

„Wer durch eine Vertragspartei rechtskräftig abgeurteilt worden ist, darf durch eine andere Vertragspartei wegen derselben Tat nicht verfolgt werden, vorausgesetzt, dass im Fall einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsstaats nicht mehr vollstreckt werden kann.“

8.

Art. 57 enthält Bestimmungen, durch die sichergestellt werden soll, dass die zuständigen Behörden der Vertragsparteien bei der Erteilung von Auskünften zwecks Durchsetzung des Grundsatzes ne bis in idem zusammenarbeiten.

9.

Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) lautet:

„Niemand darf wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden.“

10.

In den Erläuterungen zur Charta der Grundrechte ( 6 ) heißt es in Bezug auf Art. 50, dass „die Regel ‚ne bis in idem‘ nicht nur innerhalb der Gerichtsbarkeit eines Staates, sondern auch zwischen den Gerichtsbarkeiten mehrerer Mitgliedstaaten Anwendung [findet]. Dies entspricht dem Rechtsbesitzstand der Union; siehe die Artikel 54 bis 58 des Schengener Durchführungsübereinkommens … Was die in Artikel 4 des Protokolls Nr. 7 [zur Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)] bezeichneten Fälle betrifft, nämlich die Anwendung des Grundsatzes in ein und demselben Mitgliedstaat, so hat das garantierte Recht dieselbe Bedeutung und dieselbe Tragweite wie das entsprechende Recht der EMRK.“

Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten

11.

Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK sieht vor:

„(1)   Niemand darf wegen einer Straftat, wegen der er bereits nach dem Gesetz und dem Strafverfahrensrecht eines Staates rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren desselben Staates erneut verfolgt oder bestraft werden.

(2)   Absatz 1 schließt die Wiederaufnahme des Verfahrens nach dem Gesetz und dem Strafverfahrensrecht des betreffenden Staates nicht aus, falls neue oder neu bekannt gewordene Tatsachen vorliegen oder das vorausgegangene Verfahren schwere, den Ausgang des Verfahrens berührende Mängel aufweist.“

12.

Im Erläuternden Bericht zum Protokoll Nr. 7 ( 7 ) heißt es in Bezug auf Art. 4:

„(29)   Der durch diese Bestimmung aufgestellte Grundsatz kommt erst zum Tragen, nachdem die Person nach dem Gesetz und dem Strafverfahrensrecht des betreffenden Staates rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist. Es muss also eine rechtskräftige Entscheidung im Sinne von Ziff. 22[ ( 8 ) ] ergangen sein.

(30)   Die Wiederaufnahme des Verfahrens nach dem Gesetz des betreffenden Staates ist jedoch möglich, falls neue oder neu bekannt gewordene Tatsachen vorliegen oder falls sich herausstellt, dass das Verfahren schwere, den Ausgang des Verfahrens zugunsten oder zulasten der Person berührende Mängel aufweist.

(31)   Der Begriff ‚neue oder neu bekannt gewordene Tatsachen‘ umfasst neue Beweismittel für bereits vorliegende Tatsachen. Darüber hinaus schließt die Bestimmung nicht die Wiederaufnahme des Verfahrens oder eine sonstige Änderung des Urteils zugunsten der verurteilten Person aus.“

13.

Gemäß der Definition im Erläuternden Bericht zum Europäischen Übereinkommen über die internationale Geltung von Strafurteilen ( 9 ) ist eine Entscheidung rechtskräftig, „wenn sie zur res iudicata geworden ist. Dies ist dann der Fall, wenn sie unwiderruflich ist, d. h. wenn kein ordentliches Rechtsmittel mehr eingelegt werden kann, die Parteien den Rechtsweg ausgeschöpft haben oder die Frist für die Einlegung eines Rechtsbehelfs verstrichen ist.“

Nationales Recht

Belgisches Recht

14.

Wird ein Antrag auf Eröffnung der Hauptverhandlung gegen eine von einem Ermittlungsverfahren betroffene Person gestellt, sieht Art. 128 des belgischen Strafprozessgesetzbuchs (StPGB) Folgendes vor: „Wenn die Ratskammer der Ansicht ist, dass die Tat weder ein Verbrechen noch ein Vergehen noch eine Übertretung darstellt oder dass keinerlei Belastungstatsache gegen den Beschuldigten besteht, erklärt sie, dass es keinen Grund zur Verfolgung gibt.“

Eine solche Feststellung wird als Einstellungsbeschluss bezeichnet.

15.

Art. 246 StPGB lautet:

„Hat die Anklagekammer beschlossen, dass eine Verweisung des Beschuldigten an den Assisenhof nicht erforderlich ist, kann der Beschuldigte nicht mehr wegen derselben Tat vor diesen Gerichtshof gebracht werden, es sei denn, es tauchen neue Belastungstatsachen auf.“

16.

Art. 247 StPGB bestimmt:

„Als neue Belastungstatsachen werden betrachtet: Zeugenerklärungen, Aktenstücke und Protokolle, die der Anklagekammer nicht haben vorgelegt werden können, aber dazu geeignet sind, die von der Anklagekammer als zu schwach erachteten Beweise zu stärken oder neue, die Taten betreffende Ausführungen zu machen, die der Wahrheitsfindung dienlich sein können.“

17.

Nach der Rechtsprechung der belgischen Cour de cassation ( 10 ) finden die Art. 246 und 247 StPGB nicht nur auf Einstellungsbeschlüsse der Anklagekammer Anwendung, sondern auch auf alle anderen Fälle, in denen ein Untersuchungsgericht, einschließlich der in Art. 128 StPGB genannten Ratskammer, das Ermittlungsverfahren durch einen Beschluss gleicher Wirkung abgeschlossen hat.

18.

Tauchen neue Belastungstatsachen auf, übermittelt der zuständige Gerichtspolizeioffizier oder der Untersuchungsrichter gemäß Art. 248 StPGB dem Generalprokurator beim Appellationshof unverzüglich eine Abschrift der Aktenstücke und Belastungstatsachen; auf Antrag des Generalprokurators bestimmt der Vorsitzende der Anklagekammer den Richter, vor dem auf Ersuchen der Staatsanwaltschaft eine neue Untersuchung durchgeführt wird ( 11 ).

Italienisches Recht

19.

Nach Art. 604 des italienischen Strafgesetzbuchs können von einem italienischen Staatsangehörigen begangene Straftaten sexueller Gewalt in Italien auch dann verfolgt werden, wenn sie im Ausland begangen wurden.

Sachverhalt, Verfahren und Vorlagefrage

20.

Gegen M, einen in Belgien wohnhaften italienischen Staatsangehörigen, wurde nach einer Reihe von Anzeigen, die seine Schwiegertochter Q Anfang 2004 erstattet hatte, in Belgien wegen sexueller Gewalt oder jedenfalls verbotener Handlungen im sexuellen Bereich in mehreren Fällen ermittelt. Ihm wurde vorgeworfen, diese Handlungen im Zeitraum zwischen Mai 2001 und Februar 2004 in Belgien gegen seine minderjährige Enkelin N (geboren am 29. April 1999) verübt zu haben.

21.

Die belgische Polizei führte umfassende Ermittlungen durch, bei denen umfangreiche Unterlagen zusammengetragen, mehrere Personen, darunter auch N, vernommen und verschiedene Sachverständigengutachten eingeholt wurden. Die Gutachten befassten sich mit der Frage, ob die minderjährige N Spuren der angezeigten Gewalt auf körperlicher und/oder seelischer Ebene aufwies, ob die Anzeigende Q glaubwürdig ist und ob M eine in sexueller Hinsicht gestörte Persönlichkeit aufweist.

22.

Im Anschluss an diese Ermittlungen lehnte die Ratskammer des Tribunal de première instance de Mons mit Beschluss vom 15. Dezember 2008 die Verweisung an das zur Durchführung der Hauptverhandlung zuständige Gericht ab und stellte das Strafverfahren ein. Zur Begründung führte sie aus, dass keine hinreichenden Anhaltspunkte vorlägen, die die Anklage gegen M stützten.

23.

Am 21. April 2009 bestätigte die Anklagekammer der Cour d’appel de Mons den Einstellungsbeschluss. Diese Entscheidung wurde wiederum durch Urteil der Cour de cassation vom 2. Dezember 2009 bestätigt. Mit diesem Urteil wurde das Verfahren in Belgien unter dem alleinigen Vorbehalt endgültig abgeschlossen, dass bei Auftauchen neuer Belastungstatsachen (wie in den Art. 246 und 247 StPGB vorgesehen) eine Wiederaufnahme möglich ist.

24.

Unterdessen war nach einer Anzeige, die Q am 23. November 2006 bei der italienischen Polizei erstattet hatte, in Italien beim Tribunale di Fermo ein Strafverfahren gegen M wegen derselben Tat eingeleitet worden, die zu dem Ermittlungsverfahren in Belgien geführt hatte. Anschließend wurden umfangreiche Ermittlungen durchgeführt, die im Wesentlichen dieselben Vorgänge betrafen, derentwegen parallel auch in Belgien ermittelt wurde. Am 19. Dezember 2008 (d. h. vier Tage nach dem Einstellungsbeschluss der Ratskammer des Tribunal de première instance de Mons) verfügte der Untersuchungsrichter des Tribunale di Fermo die Eröffnung der Hauptverhandlung gegen M vor dem Tribunale di Fermo in Kammerbesetzung.

25.

In der Verhandlung vor dem Tribunale di Fermo vom 9. Dezember 2009 berief sich M auf den Grundsatz ne bis in idem unter Hinweis auf das eine Woche zuvor (am 2. Dezember 2009) ergangene Urteil der Cour de cassation, mit dem das belgische Parallelverfahren beendet worden war.

26.

Angesichts dessen hat das Tribunale di Fermo (Italien) das Verfahren ausgesetzt und folgende Frage vorgelegt:

Steht ein rechtskräftiges Einstellungsurteil, das in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union, der Vertragspartei des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen (SDÜ) ist, erlassen wurde und mit dem nach umfassenden Ermittlungen ein Strafverfahren abgeschlossen wurde, das aber beim Auftauchen neuer Beweise wieder aufgenommen werden könnte, der Einleitung oder der Durchführung eines Verfahrens wegen derselben Tat und gegen dieselbe Person in einem anderen Vertragsstaat entgegen?

27.

Q, die belgische, die deutsche, die italienische, die niederländische, die österreichische, die polnische und die schweizerische Regierung sowie die Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. In der Sitzung vom 12. September 2013 waren Q, die deutsche, die niederländische und die polnische Regierung sowie die Kommission vertreten und haben mündlich verhandelt.

Würdigung

28.

Die Antwort auf die vom vorlegenden Gericht gestellte Frage hängt von der Auslegung der Wendung „rechtskräftig abgeurteilt“ in Art. 54 SDÜ ab. Ist die Person mit einem Einstellungsbeschluss, wie er im belgischen Verfahren ergangen ist, rechtskräftig abgeurteilt, so dass das in Art. 54 verankerte Verbot der Doppelbestrafung zum Tragen kommt?

29.

Diese Frage lässt sich anhand der bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Art. 54 SDÜ und dem Grundsatz ne bis in idem ( 12 ) im Zusammenhang mit vor und nach einem Strafprozess ergangenen Aburteilungsentscheidungen nicht eindeutig beantworten.

30.

Ergeht die Entscheidung nach Durchführung eines Strafprozesses, greift der Grundsatz ne bis in idem nach der Rechtsprechung unabhängig davon ein, ob der Angeklagte freigesprochen oder verurteilt wurde. Dies gilt bei einer Verurteilung nach einem Prozess in Abwesenheit (ungeachtet einer gegebenenfalls nach nationalem Recht bestehenden Verpflichtung, im Fall der Festnahme des Betreffenden ein neues Verfahren einzuleiten) ( 13 ) ebenso wie bei einem Freispruch aus Mangel an Beweisen im Anschluss an einen Strafprozess ( 14 ). Im Urteil Van Straaten hat es der Gerichtshof ausdrücklich abgelehnt, über die allgemeine Frage zu befinden, ob ein Freispruch, dem keine Prüfung in der Sache zugrunde liegt, unter Art. 54 SDÜ fallen kann. Er hat sich vielmehr auf die Feststellung beschränkt, dass ein Freispruch aus Mangel an Beweisen „auf einer Prüfung in der Sache beruht“ und daher den in Art. 54 SDÜ verankerten Grundsatz ne bis in idem auslöse ( 15 ).

31.

In Fällen, in denen eine Entscheidung vor Abschluss des Strafprozesses ergeht, hat der Gerichtshof ebenfalls eine liberale Haltung eingenommen. Der Grundsatz ne bis in idem gilt auch dann, wenn die Staatsanwaltschaft – ohne Mitwirkung eines Gerichts – das Verfahren gegen Beschuldigte einstellt, die sich im Hinblick auf ihr Verhalten zur Entrichtung eines Geldbetrags verpflichten ( 16 ). Dem Gerichtshof zufolge soll Art. 54 SDÜ verhindern, dass „eine Person, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch macht, wegen derselben Tat in mehreren Mitgliedstaaten verfolgt wird“; im Weiteren hat er ausgeführt, dass zur vollständigen Verwirklichung dieses Zieles Art. 54 „auf Entscheidungen anwendbar [sein muss], mit denen die Strafverfolgung in einem Mitgliedstaat endgültig beendet wird, auch wenn sie ohne Mitwirkung eines Gerichts und nicht in Form eines Urteils ergehen“ ( 17 ).

32.

Auch wenn die Strafverfolgung im „ersten“ Mitgliedstaat wegen Verjährung eingestellt wird, gilt der Grundsatz ne bis in idem ( 18 ) – und dies, obwohl auf dem Gebiet der Verjährung keine Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Vertragsstaaten stattgefunden hat und daher eine Strafverfolgung im „zweiten“ Mitgliedstaat möglicherweise nicht wegen Verjährung ausgeschlossen ist. (Die von der Kommission in der vorliegenden Rechtssache vertretene Auffassung, wonach Art. 54 SDÜ nur dann eingreifen könne, wenn ein Beschluss nach einem in einem Strafprozess erfolgten Freispruch des Beschuldigten aus Mangel an Beweisen ergehe, kann angesichts des angeführten Urteils wohl keinen Bestand haben ( 19 ).) Nach den Ausführungen des Gerichtshofs im Urteil Gasparini u. a. setzt der Grundsatz ne bis in idem notwendig voraus, dass ein gegenseitiges Vertrauen der Vertragsstaaten in ihre jeweiligen Strafjustizsysteme besteht und dass folglich jeder von ihnen die Anwendung des in den anderen Vertragsstaaten geltenden Strafrechts akzeptiert, auch wenn die Durchführung seines eigenen nationalen Rechts zu einem anderen Ergebnis führen würde ( 20 ).

33.

Im Gegensatz dazu war in der Rechtssache Miraglia ( 21 ) ein Strafverfahren in den Niederlanden eingestellt worden, weil gegen denselben Beschuldigten wegen derselben Tat ein Verfahren in Italien anhängig war. Durch die Einstellungsentscheidung wurden jegliche Strafverfolgung wegen derselben Straftat und jegliche justizielle Zusammenarbeit mit ausländischen Behörden verboten, es sei denn, es gäbe neue Beweise ( 22 ). Der Gerichtshof hat entschieden, dass eine solche gerichtliche Entscheidung, die ohne eine Prüfung in der Sache ergangen sei, keine rechtskräftige Aburteilung des Betreffenden im Sinne von Art. 54 SDÜ darstellen könne, die einer Strafverfolgung in Italien entgegenstehe ( 23 ). Wollte man nämlich annehmen, dass die niederländische Entscheidung (die gerade wegen des in Italien anhängigen Verfahrens ergangen sei) für die Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem ausreiche, würde „die konkrete Möglichkeit, das dem Beschuldigten angelastete rechtswidrige Verhalten in den betroffenen Mitgliedstaaten zu ahnden, beeinträchtigt oder sogar ausgeschlossen“ ( 24 ). Der Gerichtshof betont somit, dass der freie Personenverkehr in Verbindung mit geeigneten Maßnahmen in Bezug auf die Verhütung und Bekämpfung der Kriminalität gewährleistet werden muss ( 25 ) (was nach Art. 3 Abs. 2 EUV gerade der Zweck der Bestimmungen des Titels V über den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ist).

34.

In der Rechtssache Turanský ( 26 ) war die Entscheidung zur Einstellung des Strafverfahrens vor Erhebung der Anklage gegen den Beschuldigten erlassen worden. Nach nationalem Recht bildete diese Entscheidung kein Hindernis für eine neue Strafverfolgung wegen derselben Tat. Der Gerichtshof ist zu dem Ergebnis gelangt, dass der Betroffene durch die Einstellungsentscheidung nicht in dem Sinne „rechtskräftig abgeurteilt“ worden sei, dass der Grundsatz ne bis in idem Anwendung finde ( 27 ). In dem genannten Urteil hat der Gerichtshof die „Turanský-Kriterien“ aufgestellt, anhand deren bestimmt wird, ob der Betroffene „rechtskräftig abgeurteilt“ worden ist. Die Entscheidung muss „endgültig die Strafverfolgung beenden und die Strafklage verbrauchen“ ( 28 ), und es muss „zunächst geprüft werden, ob das nationale Recht des Vertragsstaats, dessen Behörden die fragliche Entscheidung erlassen haben, diese als endgültig und bindend ansieht, und Gewissheit darüber hergestellt werden, ob die Entscheidung in diesem Staat den sich aus dem Verbot der Doppelbestrafung ergebenden Schutz bewirkt“ ( 29 ). Diese Kriterien wurden in der Rechtssache Mantello (in der es um den Europäischen Haftbefehl ging) gebilligt und angewandt ( 30 ).

35.

Generell scheint mir der bisherige Ansatz des Gerichtshofs demjenigen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Bezug auf Art. 4 Abs. 1 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK zu ähneln. Die Garantie dieser Vorschrift „kommt erst zum Tragen, wenn ein zuvor erfolgter Freispruch oder eine zuvor erfolgte Verurteilung rechtskräftig geworden ist“ ( 31 ). Wie der für dieses Protokoll maßgebende Erläuternde Bericht weiter klarstellt, „[ist d]ies … dann der Fall, wenn [die Entscheidung] unwiderruflich ist, d. h. wenn kein ordentliches Rechtsmittel mehr eingelegt werden kann, die Parteien den Rechtsweg ausgeschöpft haben oder die Frist für die Einlegung eines Rechtsbehelfs verstrichen ist“ ( 32 ).

36.

Die Formulierung des Grundsatzes ne bis in idem in Art. 50 der Charta entspricht derjenigen in Art. 4 des Protokolls Nr. 7. In den Erläuterungen zur Charta heißt es, dass Art. 50 „nicht nur innerhalb der Gerichtsbarkeit eines Staates, sondern auch zwischen den Gerichtsbarkeiten mehrerer Mitgliedstaaten Anwendung [findet]“, und weiter: „Was die in Artikel 4 des Protokolls Nr. 7 bezeichneten Fälle betrifft, nämlich die Anwendung des Grundsatzes in ein und demselben Mitgliedstaat, so hat das garantierte Recht dieselbe Bedeutung und dieselbe Tragweite wie das entsprechende Recht der EMRK.“

Wurde M durch den Einstellungsbeschluss in Belgien rechtskräftig abgeurteilt?

37.

Normalerweise haben die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem der Betreffende den Grundsatz ne bis in idem einwendet (hier Italien), die Frage, ob der Einwand durchgreift, anhand der Auskunft und der Unterstützung zu beurteilen, die nach Art. 57 SDÜ von dem Mitgliedstaat erteilt bzw. geleistet worden ist, in dem die diesen Einwand begründende Entscheidung erlassen wurde (hier Belgien) ( 33 ). Die Beurteilung erfolgt gemäß den vom Gerichtshof im Urteil Turanský ( 34 ) genannten Kriterien. Wie im vorliegenden Fall geschehen, kann das nationale Gericht erforderlichenfalls den Gerichtshof im Wege eines Vorabentscheidungsersuchens anrufen.

38.

Laut dem Vorlagebeschluss bewirkt das Urteil der Cour de cassation vom 2. Dezember 2009 nach belgischem Recht, dass eine weitere Strafverfolgung des Beschuldigten wegen derselben Tat ausgeschlossen ist. Die Strafverfolgung wurde nicht informell „vorläufig angehalten“, sondern förmlich eingestellt. Zwar besteht auch nach einem Einstellungsbeschluss die Möglichkeit der Wiederaufnahme des Verfahrens, wenn neue Belastungstatsachen zutage treten, aber diese Möglichkeit besteht nur begrenzt. Die neuen Belastungstatsachen müssen geeignet sein, die von der Anklagekammer (oder hier der Ratskammer) als zu schwach erachteten Beweise zu stärken oder neue, die Taten betreffende Ausführungen zu machen, die der Wahrheitsfindung dienlich sein können (Art. 247 StPGB). Eine Wiederaufnahme des Verfahrens kann nur auf Antrag der Staatsanwaltschaft erfolgen, die insoweit über ein Ermessen verfügt (Art. 248 StPGB) ( 35 ). Soweit ich sehe, kann eine Zivilperson weder die Staatsanwaltschaft zur Beantragung der Wiederaufnahme des Strafverfahrens zwingen noch aufgrund der im Rahmen des Einstellungsbeschlusses untersuchten Tatsachen ein Privatklageverfahren betreiben. Im vorliegenden Fall wurde der ordentliche Rechtsweg zur Anfechtung des Einstellungsbeschlusses beschritten und mit dem Urteil der Cour de cassation ausgeschöpft. Der Beschluss der Ratskammer des Tribunal de première instance de Mons erlangte somit Rechtskraft, so dass M aufgrund dieses Urteils vor einer Strafverfolgung in Belgien geschützt ist. Die Turanský-Kriterien sind daher erfüllt.

39.

Gleichwohl vertritt die belgische Regierung (in ihren schriftlichen Erklärungen – an der mündlichen Verhandlung hat sie nicht teilgenommen) die Auffassung, dass ein solcher Beschluss nicht endgültig sei, da bei Auftauchen neuer Belastungstatsachen die Möglichkeit der Wiederaufnahme des Verfahrens bestehe, und dass das in Art. 54 SDÜ normierte Verbot der Doppelbestrafung deshalb keine Anwendung finde. Meines Erachtens liegen dieser Ansicht zwei Gedanken zugrunde. Erstens sei es einfach nur ein unglücklicher Zufall in der zeitlichen Abfolge, dass der italienische Strafprozess erst eine Woche nach dem Urteil der belgischen Cour de cassation begonnen habe, und dass in Fällen (wie hier), in denen die zur Last gelegten Taten schwerwiegend und verwerflich seien, der Betreffende, wenn möglich, vor Gericht gestellt werden „sollte“. Zweitens könne der Grundsatz ne bis in idem niemals in einem „zweiten“ Mitgliedstaat anwendbar sein, solange die auch noch so geringe oder entfernte Möglichkeit bestehe, dass das Strafverfahren im „ersten“ Mitgliedstaat wiederaufgenommen oder erneut eingeleitet werde. Im Folgenden werde ich diese Gedankengänge nacheinander untersuchen.

Kommt es auf die zeitliche Abfolge an?

40.

Zu den auffälligsten Merkmalen des vorliegenden Falls gehört die Chronologie der Ereignisse. Die beiden umfassenden Strafermittlungsverfahren in Belgien und in Italien wurden parallel durchgeführt. Sodann wurden die Gerichte der beiden Mitgliedstaaten in folgender zeitlicher Abfolge tätig: a) Einstellungsbeschluss der Ratskammer des Tribunal de première instance de Mons (Belgien, 15. Dezember 2008), b) Verfügung des Untersuchungsrichters des Tribunale di Fermo, die Hauptverhandlung gegen M zu eröffnen (Italien, 19. Dezember 2008), c) Bestätigung des Einstellungsbeschlusses durch die Anklagekammer der Cour d’appel de Mons (Belgien, 21. April 2009), d) Bestätigung der Entscheidung der Cour d’appel de Mons durch Urteil der Cour de cassation (Belgien, 2. Dezember 2009) und schließlich e) Hauptverhandlung vor dem Tribunale di Fermo in Kammerbesetzung (Italien, 9. Dezember 2009).

41.

Zweckmäßigerweise sollten die verschiedenen Zeitpunkte in dieser Abfolge daraufhin untersucht werden, ob und gegebenenfalls wann sowie mit welcher Begründung sich der Beschuldigte auf das in Art. 54 SDÜ normierte Verbot der Doppelbestrafung berufen kann.

42.

An dem Tag, an dem der Untersuchungsrichter des Tribunale di Fermo die Eröffnung der Hauptverhandlung gegen M verfügte (19. Dezember 2008), hatte die Ratskammer des Tribunal de première instance de Mons gerade erst ihren Einstellungsbeschluss erlassen (15. Dezember 2008). Dieser Beschluss war nach belgischem Recht jedoch noch nicht „endgültig“. Die Einlegung eines Rechtsmittels dagegen war möglich (und ist tatsächlich auch erfolgt). Zu diesem Zeitpunkt hätte M daher eine Einstellung des Verfahrens in Italien nicht unter Berufung auf den Grundsatz ne bis in idem erwirken können.

43.

Das Gleiche gilt, wenn der Strafprozess gegen M in Italien vonstattengegangen und ein Urteil entweder vor dem 21. April 2009 (Entscheidung der Cour d’appel de Mons) oder auch noch vor dem 2. Dezember 2009 (Urteil der Cour de cassation) ergangen wäre. Es hätte zwar in beiden Fällen in einem anderen Mitgliedstaat gegen dieselbe Person wegen derselben Tat eine vorangegangene Entscheidung vorgelegen, doch wäre diese nach nationalem Recht noch nicht „endgültig“ gewesen.

44.

Die Lage ändert sich jedoch mit dem 2. Dezember 2009. Ab diesem Zeitpunkt ist M, falls er sich in Belgien aufhielte, aufgrund des endgültigen Urteils der Cour de cassation, mit dem der Einstellungsbeschluss bestätigt wurde, vor weiterer Strafverfolgung geschützt. Tatsächlich hat zwar der zuständige Gerichtspolizeioffizier oder der Untersuchungsrichter, falls neue Belastungstatsachen auftauchen, dem Generalprokurator beim Appellationshof nach Art. 248 StPGB unverzüglich eine Abschrift der Aktenstücke und die Belastungstatsachen zu übermitteln. Dieses Vorgehen ist obligatorisch. Dem Generalprokurator steht dann aber offenbar ein Ermessen zu ( 36 ). Er „kann“ (vermutlich wenn er der Auffassung ist, dass die neuen Belastungstatsachen zu einem anderen Ergebnis führen müssten) beim Vorsitzenden der Anklagekammer die Bestimmung eines Richters beantragen, vor dem eine neue Untersuchung durchgeführt wird. Gelangt der Generalprokurator zu der Ansicht, dass die neuen Belastungstatsachen nicht zu einem anderen Ergebnis führen oder dass sie unzureichend sind, wird er diesen Antrag wohl nicht stellen. Ohne neue Belastungstatsachen und das eben beschriebene Vorgehen ist M jedoch vor einer Strafverfolgung sicher ( 37 ).

45.

Eine Person darf den ihr durch das nationale Strafrecht gewährten Schutz nicht deshalb verlieren, weil sie von ihrem Freizügigkeitsrecht Gebrauch macht. Das Urteil der Cour de cassation vom 2. Dezember 2009 muss daher dazu führen, dass ab diesem Zeitpunkt in Italien kein Strafprozess mehr durchgeführt werden darf.

46.

Der Vollständigkeit halber möchte ich vier weitere Punkte ansprechen.

47.

Erstens meine ich, dass derjenige Zeitpunkt maßgeblich ist, an dem ein Gericht eine richterliche Entscheidung erlässt, und nicht der (spätere) Zeitpunkt, zu dem die Staatsanwaltschaft oder das Gericht in einem anderen Mitgliedstaat von dieser Entscheidung erfährt. Dies ergibt sich aus dem Gebot der Rechtssicherheit. Das Datum der Entscheidung steht fest. Das Datum der Mitteilung ist ungewiss und kann von äußeren Bedingungen abhängen.

48.

Zweitens befindet sich eine Person, gegen die die Eröffnung der Hauptverhandlung verfügt wurde, bis zum Erlass des Urteils in Gefahr, bestraft zu werden. Zwischen der Verfügung zur Eröffnung der Hauptverhandlung und der Eröffnung der Hauptverhandlung mag einige Zeit vergehen (hoffentlich nicht so viel Zeit wie im vorliegenden Fall); auch die Durchführung der Hauptverhandlung als solche kann einige Zeit in Anspruch nehmen. Es gilt aber das Verbot der Doppelbestrafung. Folglich ist der Grundsatz ne bis in idem nicht nur bis zur Verfügung zur Eröffnung der Hauptverhandlung oder bis zur Eröffnung der Hauptverhandlung anwendbar. Der Grundsatz kann vielmehr bis zum Erlass des Urteils im Strafprozess geltend gemacht werden.

49.

Drittens ist es nach der Verurteilung einer Person in einem in einem „zweiten“ Mitgliedstaat geführten Strafprozess unerheblich, dass eine gegen dieselbe Person wegen derselben Tat im „ersten“ Mitgliedstaat erlassene Entscheidung in der Folgezeit endgültig wird. Zum Zeitpunkt des Strafprozesses im zweiten Mitgliedstaat lag nämlich im ersten Mitgliedstaat eine endgültige Entscheidung (noch) nicht vor. Selbstverständlich kann gegen das im zweiten Mitgliedstaat ergangene Urteil nach nationalem Recht ein Rechtsmittel aus allen Gründen eingelegt werden, die im Strafrecht jenes Mitgliedstaats als Rechtsmittelgrund anerkannt sind. Ein auf Art. 54 SDÜ gestützter Einwand ist hingegen nicht möglich.

50.

Viertens muss folgende Frage beantwortet werden: „Wie steht es mit dem vergeblichen Zeitaufwand der Polizei und Mittelaufwand der öffentlichen Hand für eingehende Ermittlungen im zweiten Mitgliedstaat, wenn unter den gegebenen Umständen der Grundsatz ne bis in idem Anwendung findet und die Strafverfolgung einer Person, gegen die bereits die Eröffnung der Hauptverhandlung verfügt worden ist, nicht weiter betrieben werden kann?“

51.

Das zugrunde liegende Problem eines „Strafverfolgungsrennens“ und möglicher Kompetenzkonflikte in Strafsachen ist nicht von der Hand zu weisen und verdient eine nähere Prüfung. Derzeit gibt es keine unionsweit vereinbarten Regeln für die Zuweisung von Zuständigkeiten in Strafsachen ( 38 ). Die Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem löst dieses Problem in begrenztem Umfang und gelegentlich auf willkürliche Art und Weise ( 39 ). Er bietet keinen befriedigenden Ersatz für Maßnahmen zur Beseitigung solcher Konflikte anhand vereinbarter Kriterien.

52.

Inzwischen gibt es einige unionsrechtliche Bestimmungen über den Informationsaustausch zwischen den Ermittlungsbehörden der einzelnen Mitgliedstaaten ( 40 ). Der Rahmenbeschluss 2009/948/JI des Rates ( 41 ), der am 15. Dezember 2009 (und damit unmittelbar nach der Hauptverhandlung im italienischen Verfahren) veröffentlicht wurde und in Kraft trat, verpflichtet die zuständige Behörde eines Mitgliedstaats, die hinreichenden Grund zu der Annahme hat, dass in einem anderen Mitgliedstaat ein paralleles Verfahren geführt wird, zur Kontaktaufnahme mit der zuständigen Behörde des anderen Mitgliedstaats im Hinblick auf die Einleitung direkter Konsultationen. Durch diese Konsultationen sollen die nachteiligen Folgen parallel geführter Verfahren vermieden werden; sie können gegebenenfalls zu einer Konzentration der Strafverfahren in einem einzigen Mitgliedstaat führen.

53.

Damit werden die der vorliegenden Rechtssache (und der vorangegangenen Rechtssache Miraglia) zugrunde liegenden Streitfragen in gewissem Grad ausgeräumt. Der Rahmenbeschluss 2009/948/JI des Rates bewirkt jedoch keine Harmonisierung der nationalen gesetzlichen Vorschriften und Verfahren auf diesem Rechtsgebiet. Insbesondere ist ein Mitgliedstaat nicht verpflichtet, die Zuständigkeit abzutreten oder auszuüben ( 42 ). Sofern und solange der Gesetzgeber die Problematik paralleler Verfahren nicht umfassender regelt, muss notwendigerweise das in Art. 54 SDÜ normierte Verbot der Doppelbestrafung zur Schließung der Lücke herangezogen werden.

„Wenn das Verfahren (möglicherweise) wiederaufgenommen werden könnte, findet der Grundsatz ne bis in idem keine Anwendung

54.

Weder Art. 54 SDÜ noch Art. 50 der Charta äußern sich ausdrücklich dazu, wie der Grundsatz ne bis in idem gehandhabt werden soll, wenn neue Belastungstatsachen bekannt werden. In den Erläuterungen zur Charta in Bezug auf Art. 50 heißt es insoweit hilfreich, dass bei Anwendung des in der Charta normierten Rechts in ein und demselben Mitgliedstaat „das garantierte Recht dieselbe Bedeutung und dieselbe Tragweite wie das entsprechende Recht der EMRK [hat]“.

55.

Somit muss man sich also an die EMRK halten; insoweit bestimmt Art. 4 Abs. 2 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK, dass Art. 4 Abs. 1 (Schutz des Rechts, wegen derselben Sache nicht zweimal vor Gericht gestellt oder bestraft zu werden) die Wiederaufnahme des Verfahrens nicht ausschließt, „falls neue oder neu bekannt gewordene Tat-sachen vorliegen“. Der Erläuternde Bericht zum Protokoll Nr. 7 ( 43 ) stellt klar, dass der Begriff „neue oder neu bekannt gewordene Tatsachen“„neue Beweismittel für bereits vorliegende Tatsachen“ umfasst. Die nach belgischem Recht als Ausnahme vorgesehene Möglichkeit der Wiederaufnahme eines Strafverfahrens nach einem Einstellungsbeschluss lehnt sich daher eng an die Regelung des Art. 4 Abs. 2 des Protokolls Nr. 7 an.

56.

Ich verstehe das Protokoll Nr. 7 zur EMRK dahin, dass Art. 4 Abs. 1 den durch den Grundsatz ne bis in idem gewährten Schutz festlegt. Von dieser Regel enthält Art. 4 Abs. 2 eine Ausnahme, wonach die Wiederaufnahme des Verfahrens (nach dem Gesetz und dem Strafver-fahrensrecht des betreffenden Staates) ermöglicht wird, obwohl ansonsten der Grundsatz ne bis in idem gilt. Das heißt nicht (und kann meines Erachtens auch nicht vernünftigerweise dahin ausgelegt werden), dass der Grundsatz ne bis in idem keine Anwendung findet, solange die theoretische Möglichkeit besteht, „dass neue Beweismittel für bereits vorliegende Tatsachen“ auftauchen. Theoretisch besteht immer die Möglichkeit, dass neue Belastungstatsachen auftauchen, die die zuvor vorhandenen ergänzen. Bei der von Belgien befürworteten Auslegung würde der Grundsatz ne bis in idem daher bedeutungslos. Trotz eines Einstellungsbeschlusses, der von dem höchsten Gericht bestätigt wurde und daher Rechtskraft erlangt hat, würde dem Beschuldigten eben der Schutz entzogen, der ihm nach nationalem Recht zugedacht ist. Wäre ohne neue Belastungstatsachen ein zweites Verfahren in Belgien (statt in Italien) eingeleitet worden, wird ohne Weiteres deutlich, dass der Einstellungsbeschluss der Durchführung eines solchen Verfahrens entgegenstünde.

57.

Ändert sich an diesem Ergebnis etwas, wenn das zweite Verfahren in einem anderen, „zweiten“ Mitgliedstaat stattfindet?

58.

Ich meine nicht. Art. 54 SDÜ soll gerade verhindern, dass eine Person, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch macht, den ihr ansonsten zustehenden Schutz aus dem Verbot der Doppelbestrafung verliert. Eindeutig kann der Grundsatz ne bis in idem, der aufgrund einer in einem Mitgliedstaat (hier Belgien) erlassenen Entscheidung anwendbar ist, dazu führen, dass die Strafverfolgung in einem anderen Mitgliedstaat (hier Italien) verboten ist, selbst wenn die Gerichte des zweiten Mitgliedstaats auf der Grundlage im Wesentlichen derselben Belastungstatsachen zu einem anderen Ergebnis gekommen sein mögen. Dass die Gerichte zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangen können, ist jedoch dadurch bedingt, dass der Grundsatz ne bis in idem trotz fehlender Harmonisierung gilt und auf ein hohes Maß gegenseitigen Vertrauens gestützt ist ( 44 ).

59.

Auf einer grundsätzlicheren Ebene steht jedoch fest, dass bei Bekanntwerden neuer Belastungstatsachen das Verbot der Doppelbestrafung der Wiederaufnahme des Verfahrens nicht entgegensteht ( 45 ). Wenn im vorliegenden Fall die italienischen Strafverfolgungsbehörden die ihnen bekannt gewordenen Tatsachen oder Beweise ihren belgischen Kollegen mitteilen, können diese sie auswerten und sich überlegen, ob sie sich um eine Wiederaufnahme des belgischen Verfahrens nach den Art. 246, 247 und 248 StPGB bemühen wollen. Ich betone jedoch, dass (meines Erachtens) ein erneutes Verfahren gegen einen Beschuldigten, zu dessen Gunsten ein endgültiger Einstellungsbeschluss ergangen ist, in dem Mitgliedstaat, in dem dieser Beschluss erlassen wurde (d. h. im ersten Mitgliedstaat), eingeleitet werden muss. Den Gerichten des zweiten Mitgliedstaats ist es verwehrt, diesen Verfahrensgang (und die Verfahrensgarantien, die dem Beschuldigten nach dem nationalen Recht des ersten Mitgliedstaats zustehen) dadurch zu umgehen, dass sie durch Heranziehung von Belastungstatsachen, die „neu“ sein mögen (oder auch nicht), einen Strafprozess gegen den Beschuldigten führen.

Ergebnis

60.

Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die vom Tribunale di Fermo (Italien) vorgelegte Frage wie folgt zu beantworten:

Art. 54 des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen ist dahin auszulegen, dass ein nach eingehenden Ermittlungen erlassener Beschluss zur endgültigen Einstellung eines Strafverfahrens, der einer erneuten Strafverfolgung derselben Person wegen derselben Tat entgegensteht, nach nationalem Recht aber bei Auftauchen neuer Belastungstatsachen aufgehoben werden kann, eine rechtskräftige Aburteilung darstellt und zur Anwendung des in der genannten Vorschrift verankerten Verbots der Doppelbestrafung führt.


( 1 ) Originalsprache: Englisch.

( 2 ) Betrifft nur die englische Fassung.

( 3 ) Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (ABl. 2000, L 239, S. 19).

( 4 ) Protokoll (Nr. 19) über den in den Rahmen der Europäischen Union einbezogenen Schengen-Besitzstand (ABl. 2012, C 326, S. 290).

( 5 ) Im Anhang des dem Vertrag von Amsterdam beigefügten Protokolls zur Einbeziehung des Schengen-Besitzstands in den Rahmen der Europäischen Union (ABl. 1997, C 340, S. 93) sind die Bereiche aufgeführt, die Bestandteil des Schengen-Besitzstands sind. In Ziff. 2 ist das SDÜ genannt.

( 6 ) ABl. 2007, C 303, S. 17.

( 7 ) SEV Nr. 117.

( 8 ) Ziff. 22 verweist auf die Definition im Erläuternden Bericht zum Europäischen Übereinkommen über die internationale Geltung von Strafurteilen (siehe unten, Nr. 13).

( 9 ) SEV Nr. 070.

( 10 ) Cass. 7. September 1982, Pas. 1983, I, 27 bis 30.

( 11 ) Betrifft nur die englische Fassung.

( 12 ) Urteile vom 11. Februar 2003, Gözütok und Brügge (C-187/01 und C-385/01, Slg. 2003, I-1345), vom 10. März 2005, Miraglia (C-469/03, Slg. 2005, I-2009), vom 28. September 2006, Gasparini u. a. (C-467/04, Slg. 2006, I-9199), vom 28. September 2006, Van Straaten (C-150/05, Slg. 2006, I-9327), vom 11. Dezember 2008, Bourquain (C-297/07, Slg. 2008, I-9425), und vom 22. Dezember 2008, Turanský (C-491/07, Slg. 2008, I-11039).

( 13 ) Urteil Bourquain (oben in Fn. 12 angeführt, Rn. 39 und 40).

( 14 ) Urteil Van Straaten (oben in Fn. 12 angeführt, Rn. 58). Generalanwalt Ruiz-Jarabo Colomer weist darauf hin, dass keiner der Verfahrensbeteiligten in jener Rechtssache die Geltung des Grundsatzes ne bis in idem in einem Fall bestreite, der dem nationalen Recht unterliege (vgl. Nr. 73 seiner Schlussanträge).

( 15 ) Rn. 60 des Urteils.

( 16 ) Urteil Gözütok und Brügge (oben in Fn. 12 angeführt, Rn. 48).

( 17 ) Rn. 38 des Urteils.

( 18 ) Urteil Gasparini u. a. (oben in Fn. 12 angeführt, Rn. 33).

( 19 ) Bei seiner Feststellung, dass der Grundsatz ne bis in idem Anwendung finde, ist der Gerichtshof eindeutig davon ausgegangen, dass es unerheblich ist, dass aufgrund der Verjährung für die Beschuldigten im ersten Verfahren nie die Gefahr einer Verurteilung bestanden hat.

( 20 ) Urteil Gasparini u. a. (oben in Fn. 12 angeführt, Rn. 29 und 30).

( 21 ) Oben in Fn. 12 angeführt.

( 22 ) Vgl. Rn. 22 des Urteils.

( 23 ) Rn. 35 des Urteils. Vgl. hierzu im Kontext des Wettbewerbsrechts auch Urteil vom 15. Oktober 2002, Limburgse Vinyl Maatschaappij u. a./Kommission (C-238/99 P, C-244/99 P, C-245/99 P, C-247/99 P, C-250/99 P bis C-252/99 P und C-254/99 P, Slg. 2002, I-8375, Rn. 62), in dem der Gerichtshof dargelegt hat, dass eine Nichtigerklärung, die ohne materielle Beurteilung des zur Last gelegten Sachverhalts erlassen worden sei, keinen Freispruch darstelle, aufgrund dessen der Grundsatz ne bis in idem zur Anwendung kommen könne.

( 24 ) Urteil Miraglia (oben in Fn. 12 angeführt, Rn. 33).

( 25 ) Ebd. (Rn. 34).

( 26 ) Oben in Fn. 12 angeführt.

( 27 ) Urteil Turanský (oben in Fn. 12 angeführt, Rn. 39 und 40).

( 28 ) Urteil Turanský (oben in Fn. 12 angeführt, Rn. 34).

( 29 ) Rn. 35.

( 30 ) Urteil vom 16. November 2010 (C-261/09, Slg. 2010, I-11477, Rn. 46). In Art. 3 Nr. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. L 190, S. 1) ist der Grundsatz ne bis in idem als einer der Gründe aufgeführt, aus denen die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abzulehnen ist. Nach den Ausführungen des Gerichtshofs im Urteil Mantello (Rn. 40) „[ist a]ngesichts der gemeinsamen Zielsetzung von Art. 54 SDÜ und Art. 3 Nr. 2 des Rahmenbeschlusses … davon auszugehen, dass die Auslegung des genannten Begriffs im Rahmen des SDÜ auch für den im Rahmenbeschluss verwendeten Begriff gilt“. Im Weiteren (Rn. 45 bis 47) hat die Große Kammer dann diese Rechtsprechung angeführt und die Turanský-Kriterien erneut angewandt.

( 31 ) Urteil des EGMR vom 10. Februar 2009, Zolotukhin/Russland (Beschwerde Nr. 14939/03, Reports of Judgments and Decisions 2009-I, S. 291, § 83).

( 32 ) Oben in Nr. 13 angeführt.

( 33 ) Vgl. hierzu Urteil Mantello (oben in Fn. 30 angeführt, Rn. 48 und 49).

( 34 ) Siehe oben, Nr. 34.

( 35 ) Siehe näher hierzu unten, Nr. 44.

( 36 ) Auf Französisch heißt es in der Vorschrift: „… sur la réquisition du procureur général …“ („auf Ersuchen des Generalprokurators“), was darauf hindeutet, dass der Generalprokurator entscheiden kann, ob er ein solches Ersuchen stellt oder nicht.

( 37 ) Siehe oben, Nr. 38.

( 38 ) Lösungsversuche für dieses Problem finden sich im Grünbuch der Kommission über Kompetenzkonflikte und den Grundsatz ne bis in idem in Strafverfahren (SEK[2005] 1767) mit Anhang vom 23. Dezember 2005 (KOM[2005] 696 endgültig) und den dazu eingegangenen Stellungnahmen. Vgl. auch den Kommentar von Fletcher, M., „The problem of multiple criminal prosecutions: building an effective EU response“ in Yearbook of European Law, Bd. 26 (2007), S. 33 bis 56. In Bezug auf Rechtssachen, die den Grundsatz ne bis in idem betreffen und die – zumindest bis zu einem gewissem Grad – auf der Unzufriedenheit damit beruhen mögen, dass die Behörden eines anderen Mitgliedstaats die Strafverfolgung als Erste eingeleitet haben, vgl. (z. B.) Urteile vom 9. März 2006, Van Esbroeck (C-436/04, Slg. 2006, I-2333), und vom 18. Juli 2007, Kraaijenbrink (C-367/05, Slg. 2007, I-6619).

( 39 ) Eine klug durchdachte Erörterung dieser allgemeinen Frage findet sich bei Fletcher, M., Lööf, R., Gilmore, B., EU Criminal Law and Justice (Elgar European Law, 2008), S. 131, insbesondere S. 132 f.

( 40 ) Auf Ebene der institutionellen Einrichtungen vgl. Beschluss 2002/187/JI des Rates vom 28. Februar 2002 über die Errichtung von Eurojust zur Verstärkung der Bekämpfung der schweren Kriminalität (ABl. L 63, S. 1) sowie Übereinkommen aufgrund von Artikel K.3 des Vertrags über die Europäische Union über die Errichtung eines Europäischen Polizeiamts (Europol-Übereinkommen) (ABl. 1995, C 316, S. 2).

( 41 ) Beschluss vom 30. November 2009 zur Vermeidung und Beilegung von Kompetenzkonflikten in Strafverfahren (ABl. L 328, S. 42).

( 42 ) Vgl. elfter Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses.

( 43 ) Vgl. Ziff. 31, oben in Nr. 12 wiedergegeben.

( 44 ) Vgl. Tampere Europäischer Rat, 15. und 16. Oktober 1999, Schlussfolgerungen des Vorsitzes (Nr. 200/1/99), sowie Urteil Gasparini u. a. (oben in Fn. 12 und Nr. 32 angeführt, Rn. 30).

( 45 ) Siehe oben, Nrn. 54 bis 56.