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Document 52013DC0820

MITTEILUNG DER KOMMISSION AN DAS EUROPÄISCHE PARLAMENT, DEN RAT, DEN EUROPÄISCHEN WIRTSCHAFTS- UND SOZIALAUSSCHUSS UND DEN AUSSCHUSS DER REGIONEN Fortschritte bei der Umsetzung der EU-Agenda zu den Verfahrensrechten für Verdächtige oder Beschuldigte – Stärkung der Grundlagen des europäischen Strafjustizraums

/* COM/2013/0820 final */

52013DC0820

MITTEILUNG DER KOMMISSION AN DAS EUROPÄISCHE PARLAMENT, DEN RAT, DEN EUROPÄISCHEN WIRTSCHAFTS- UND SOZIALAUSSCHUSS UND DEN AUSSCHUSS DER REGIONEN Fortschritte bei der Umsetzung der EU-Agenda zu den Verfahrensrechten für Verdächtige oder Beschuldigte – Stärkung der Grundlagen des europäischen Strafjustizraums /* COM/2013/0820 final */


MITTEILUNG DER KOMMISSION AN DAS EUROPÄISCHE PARLAMENT, DEN RAT, DEN EUROPÄISCHEN WIRTSCHAFTS- UND SOZIALAUSSCHUSS UND DEN AUSSCHUSS DER REGIONEN

Fortschritte bei der Umsetzung der EU-Agenda zu den Verfahrensrechten für Verdächtige oder Beschuldigte – Stärkung der Grundlagen des europäischen Strafjustizraums

Es ist eine allgemein bekannte Maxime, dass Recht nicht nur geübt werden muss, sondern dass dies auch nach außen erkennbar sein muss. Für den europäischen Rechtsraum bedeutet dies, dass der Bürger nicht nur das Recht auf ein faires Verfahren an einem beliebigen Ort in der Europäischen Union haben muss, sondern dass er auch darauf vertrauen können muss, wenn er sein Recht auf Freizügigkeit ausübt. Ebenso müssen die nationalen Justizbehörden darauf vertrauen können, dass die Rechtspflege in den anderen Mitgliedstaaten ordentlich funktioniert.

Die Kommission wurde im Stockholmer Programm[1] ersucht, zur Weiterentwicklung dieses auf gegenseitiger Anerkennung und auf gegenseitigem Vertrauen basierenden Rechtsraums Vorschläge zur Stärkung der Verfahrensrechte von Verdächtigen oder Beschuldigten vorzulegen.[2] Die Agenda der Kommission zu den Verfahrensrechten geht auf diesen politischen Auftrag zur Gewährleistung des Rechts auf ein faires Verfahren in der Europäischen Union zurück. Durch ihn rückte die Stärkung der Rechte im Strafverfahren in den Mittelpunkt der europäischen Strafjustizpolitik.

Mit dem vorliegenden Legislativpaket wird das erfolgreiche Rechtsetzungsprogramm im Bereich der Verfahrensrechte fortgeführt. Die Europäische Union ist mit dem Erlass von bisher drei Richtlinien in ihrem Programm sehr gut vorangekommen.

· 2010 wurde eine Richtlinie über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren erlassen, die bis zum 27. Oktober 2013 umgesetzt sein muss.[3] Verdächtige und Beschuldigte werden danach nicht nur in der Hauptverhandlung, sondern auch während der polizeilichen Vernehmung und bei wichtigen Zusammenkünften mit ihrem Rechtsbeistand Dolmetschleistungen sowie Übersetzungen von Dokumenten zur Verfügung gestellt, die für die Wahrnehmung ihrer Verteidigungsrechte wesentlich sind.

· 2012 folgte die Richtlinie über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren, die bis zum 2. Juni 2014 umgesetzt sein muss.[4] Danach müssen Verdächtige oder Beschuldigte bei der Festnahme stets eine schriftliche Erklärung der Rechte in einfacher und verständlicher Sprache erhalten mit Hinweisen zu ihren Rechten. Bei Bedarf erhalten sie eine Übersetzung dieser Erklärung.

· Im Oktober 2013 wurde dann die Richtlinie über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand sowie über das Recht auf Kommunikation bei Freiheitsentzug erlassen.[5] Diese Richtlinie ist der Dreh- und Angelpunkt der Agenda zu den Verfahrensrechten. Jedem Verdächtigen oder Beschuldigten wird das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand bereits in einem frühen Stadium des Verfahrens bis zu dessen Abschluss garantiert. Zudem erhält jeder, dem die Freiheit entzogen wird, Gelegenheit, mit seiner Familie in Kontakt zu treten sowie mit dem Konsulat, falls die Festnahme in einem anderen EU-Mitgliedstaat erfolgte.

Diese Richtlinien markieren wichtige Etappenziele auf dem Weg zu gefestigteren Verfahrensrechten für EU-Bürger. Ausgangspunkt für diese Gemeinschaftsleistung der EU-Organe waren die neuen Strafrechtsbestimmungen des Lissabonner Vertrags, darunter die Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit im Rat und die Einbeziehung des Europäischen Parlaments als Gesetzgeber.

Darüber hinaus gab die Kommission im Juni 2011 ein Grünbuch zur Anwendung der EU-Strafrechtsvorschriften im Bereich des Freiheitsentzugs heraus, in dem das Verhältnis zwischen Freiheitsentzug und Vertrauen in der EU untersucht wurde. Haftbedingungen können sich direkt auf die gegenseitige Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen auswirken, da sich ein Richter bei schlechten Haftbedingungen veranlasst sehen könnte, die Übergabe einer gesuchten Person z. B. in Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls abzulehnen.[6] Die Grünbuchbeiträge und deren Analyse sind auf der Website der Kommission zu finden. Als Ergebnis ist festzuhalten, dass Untersuchungshaft und die Förderung alternativer Maßnahmen zwar für die Mitgliedstaaten und die Zivilgesellschaft wichtige Themen sind, dass aber die ordnungs- und fristgemäße Umsetzung des EU-Rechts Vorrang haben muss.[7]

In dieser Mitteilung werden fünf zusammenhängende Legislativmaßnahmen vorgestellt, mit denen die Agenda zu den Verfahrensrechten vorangebracht und das Fundament für den europäischen Strafjustizraum weiter konsolidiert werden soll. Zu den Verfahrensrechten sind bislang drei Richtlinien erlassen worden.

Das vorliegende Legislativpaket besteht aus drei Richtlinienvorschlägen

1) zur Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren,

2) zu besonderen strafprozessualen Verfahrensgarantien für verdächtige oder beschuldigte Kinder und

3) zur vorläufigen Prozesskostenhilfe für Verdächtige oder Beschuldigte, denen die Freiheit entzogen ist, sowie zur Prozesskostenhilfe in Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls.

Da die Maßnahmen in Bezug auf die Zielsetzung des EU-Handelns verhältnismäßig sein müssen, legt die Kommission außerdem zwei Empfehlungen vor

4) zu strafprozessualen Verfahrensgarantien für einer Straftat verdächtige oder beschuldigte schutzbedürftige Personen und

5) zum Recht auf Prozesskostenhilfe in Strafverfahren für Verdächtige oder Beschuldigte.

1.           Gründe für ein Tätigwerden der EU

· Die gemeinsame Grundlage: die EU-Charta und die EMRK

Die Weiterentwicklung und Förderung der Grundrechte hat in der EU eine lange Tradition. Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (EU-Charta) und die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) bilden die Grundlage für den Schutz der Rechte Verdächtiger oder Beschuldigter in den Strafjustizsystemen innerhalb der Europäischen Union. Die Rechtsverbindlichkeit der EU-Charta ist im EU-Vertrag festgeschrieben,[8] der auch den Beitritt der Europäischen Union zur EMRK vorsieht[9]. Alle Mitgliedstaaten haben die EMRK unterzeichnet. Das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf, auf ein faires Verfahren und auf Verteidigung nach Artikel 47 und 48 der EU-Charta und Artikel 6 EMRK muss im Rechtsraum der EU gewährleistet sein. Für die im vorliegenden Legislativpaket erfassten Rechte bestehen in den Mitgliedstaaten umfassende rechtliche Regelungen.

Verlagerung des Schwerpunkts: Verfahrensrechte und gegenseitiges Vertrauen als Voraussetzung für die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung komplementär zu Sicherheitserwägungen

In den zehn Jahren vor Inkrafttreten des Lissabonner Vertrags konzentrierte sich die EU-Gesetzgebung darauf, die Verbrechensbekämpfung zu erleichtern. Das Ergebnis war eine beeindruckende Anzahl von Rechtsinstrumenten zur justiziellen Zusammenarbeit und zur Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung, die auf eine bessere strafrechtliche Verfolgung von Straftätern abzielten. Am bekanntesten ist der Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl, der die zügige Überstellung gesuchter Personen in den Mitgliedstaaten ermöglicht. In erster Linie geht es darum sicherzustellen, dass die Freizügigkeit der EU-Bürger innerhalb der EU kein Hemmnis für die grenzübergreifende Strafverfolgung bedeutet.

Die betreffenden EU-Rechtsinstrumente gestatten es den nationalen Justizbehörden, Ermittlungsmaßnahmen sowie Strafurteile EU-weit schnell und zügig anzuerkennen. Ihnen liegt die Prämisse zugrunde, dass jeder Mitgliedstaat über ein Justizsystem verfügt, das das Recht auf ein faires Verfahren in relativ vergleichbarem Maß gewährleistet, so dass der Anerkennung und Vollstreckung entsprechender Ersuchen nichts entgegensteht.

Das System der gegenseitigen Anerkennung kann allerdings nur dann zufriedenstellend funktionieren, wenn die Mitgliedstaaten einander in der Strafrechtspflege vertrauen. Die Verfahrensrechte Verdächtiger oder Beschuldigter sind jedoch in den Mitgliedstaaten nach wie vor nicht in gleichem Umfang geschützt. Hierunter leidet das Vertrauen, das die Mitgliedstaaten einander bei der Strafrechtspflege entgegenbringen müssen. Um Vertrauen zu schaffen, muss die Europäische Union dafür sorgen, dass alle Mitgliedstaaten über einen gemeinsamen Sockel an Verfahrensrechten verfügen und dass diese Rechte auf der Grundlage des EU-Rechts durchgesetzt werden können.

Aus diesem Grund sieht der Lissabonner Vertrag in Artikel 82 Absatz 2 Buchstabe b AEUV die Möglichkeit vor, auf EU-Ebene Mindestvorschriften für die Rechte des Einzelnen im Strafverfahren zu erlassen. Ähnlich lautet auch der Auftrag, den die Kommission für den Zeitraum 2010-2014 vom Europäischen Rat erhielt: „Im Bereich der justiziellen und polizeilichen Zusammenarbeit wurden indes erhebliche Fortschritte in Bezug auf Maßnahmen erzielt, die die Strafverfolgung erleichtern. Jetzt ist es an der Zeit, auf die Verbesserung des Gleichgewichts zwischen diesen Maßnahmen und dem Schutz der Verfahrensrechte des Einzelnen hinzuwirken. Es sollten Bemühungen unternommen werden, um die Verfahrensgarantien und die Achtung der Rechtsstaatlichkeit in Strafverfahren zu verstärken, unabhängig davon, wo in der Europäischen Union ein Bürger studiert, arbeitet oder lebt bzw. wohin er reist.“[10]

· Das Vertrauen der Bürger in EU-weit gleiche Verfahrensrechte

Der Schutz der Verfahrensrechte Verdächtiger oder Beschuldigter weist eindeutig eine europäische Dimension auf. Rund 14,1 Mio. EU-Bürger wohnen dauerhaft in einem anderen EU-Staat,[11] 10 % der EU-Bürger haben eine Zeit lang im Ausland gelebt und gearbeitet, und 13 % haben eine Ausbildung oder ein Studium im Ausland absolviert[12]. Innerhalb der Europäischen Union herrscht eine rege Reisetätigkeit, und damit steigt auch die Gefahr, in ein Strafverfahren außerhalb des eigenen Mitgliedstaats verwickelt zu werden. Die Europäische Union muss deshalb für eine einheitliche Regelung der strafprozessualen Verfahrensrechte sorgen.

2.           Zeit für wohldurchdachte Maßnahmen, um die Agenda der Europäischen Union zu den Verfahrensrechten voranzubringen

· Warum weitere Maßnahmen auf EU-Ebene?

Mit den unlängst erlassenen Richtlinien zu den Verfahrensrechten ist, sobald sie von den Mitgliedstaaten umgesetzt worden sind, gewährleistet, dass Verdächtige oder Beschuldigte in den Genuss einer Reihe grundlegender Garantien kommen. Damit ist die Agenda zu den Verfahrensrechten aber noch nicht am Ende.

· Verdächtige oder Beschuldigte werden umgehend über ihr Aussageverweigerungsrecht belehrt, aber was passiert, wenn sie von diesem Recht tatsächlich Gebrauch machen? In einigen Mitgliedstaaten steht es den Justizbehörden frei, dieses Schweigen als Bestätigung für belastendes Beweismaterial zu werten. Das Recht auf ein faires Verfahren muss auf eine solide Grundlage gestellt werden. Dies bedeutet auch, dass die Unschuldsvermutung EU-weit geschützt werden muss.

· Personen, die der Verfahrenssprache nicht mächtig sind, erhalten einen Dolmetscher und eine Übersetzung der wesentlichen Schriftstücke, aber was ist mit jenen, die beispielsweise aufgrund ihres Alters oder einer geistigen Behinderung nicht in der Lage sind, einem Strafverfahren zu folgen und aktiv daran teilzunehmen? Die EU-Richtlinien über Verfahrensgarantien für Verdächtige oder Beschuldigte gelten auch für Kinder. Unter den Interessenträgern und Mitgliedstaaten besteht allerdings durchweg Einvernehmen darüber, dass Kinder aufgrund der ihnen eigenen Schutzbedürftigkeit eines weitergehenden besonderen Schutzes bedürfen: z. B. müssen sie gegenüber der Polizei oder einer Strafjustizbehörde zwingend durch einen Rechtsbeistand vertreten sein.[13] Das Recht auf ein faires Verfahren von Kindern und sonstigen schutzbedürftigen Personen ist derzeit in der EU nicht ausreichend gewährleistet, da es an einer übergreifenden Schutzregelung fehlt. Im Stockholmer Programm ist der Erlass gemeinsamer Mindestvorschriften für schutzbedürftige Personen ausdrücklich vorgesehen. Solche gemeinsamen Mindestvorschriften würden das Vertrauen in die Strafrechtspflege der anderen Mitgliedstaaten stärken und auf diese Weise dazu beitragen, die gegenseitige Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Strafsachen zu erleichtern. Um den Bedürfnissen von Kindern und schutzbedürftigen Personen während des Strafverfahrens gerecht zu werden, bedarf es besonderer Verfahrensgarantien.

· Die Richtlinie über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand gibt jedem Verdächtigen oder Beschuldigten bereits in einem frühen Stadium des Verfahrens – beispielsweise bei einer polizeilichen Befragung – das Recht, einen Rechtsbeistand hinzuzuziehen. Aber was ist, wenn sie sich keinen Rechtsbeistand leisten können? In diesem Fall benötigen sie Prozesskostenhilfe, um ihr Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand effektiv ausüben zu können.

· Notwendigkeit eines ausgewogenen Vorgehens

Die Kommission legt ein ausgewogenes Maßnahmenpaket vor, das im Einklang mit Artikel 82 Absatz 2 AEUV den Unterschieden zwischen den Rechtsordnungen und -traditionen der Mitgliedstaaten gebührend Rechnung trägt und unter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsprinzips (Artikel 5 EUV) auf die Stärkung des gegenseitigen Vertrauens gerichtet ist. Es wurde sorgfältig geprüft, ob die EU tätig werden soll und, wenn ja, auf welcher Ebene und in welcher Form. Eingehend geprüft wurde auch die Kosteninzidenz für die Mitgliedstaaten, der in Zeiten der Haushaltskonsolidierung besondere Aufmerksamkeit gelten muss. Aus diesem Grund verzichtet die Kommission beispielsweise bei der Prozesskostenhilfe-Richtlinie auf die Aufnahme rechtsverbindlicher Bewilligungsvoraussetzungen. Die Kosten für die Mitgliedstaaten, die mit der vorläufigen und der regulären Prozesskostenhilfe in Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls verbunden sind, werden sich in Grenzen halten.

· Ein vorausschauendes Legislativpaket: Verfahrensgarantien und Europäische Staatsanwaltschaft

Das vorliegende Legislativpaket wird auch dazu beitragen, den Rechtsschutz für Personen zu verbessern, die an Verfahren beteiligt sind, die von der Europäischen Staatsanwaltschaft geführt werden. In dem kürzlich vorgelegten Verordnungsvorschlag für eine Europäische Staatsanwaltschaft[14] wird klargestellt, dass ein Verdächtiger über alle ihm durch EU-Recht, die Grundrechte-Charta und geltendes nationales Recht garantierten Rechte verfügt. Ausdrücklich genannt werden das Recht auf Prozesskostenhilfe und die Unschuldsvermutung. Eine Stärkung der Verfahrensgarantien wird auch in Verfahren der Europäischen Staatsanwaltschaft zum Tragen kommen und das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Arbeitsweise der Staatsanwaltschaft befördern.

3.           Die Vorschläge im Einzelnen

3.1         Ein solides Fundament für das Recht auf ein faires Verfahren – die Unschuldsvermutung

· Die Unschuldsvermutung — ein Grundprinzip des Strafrechts

Dass ein Beschuldigter bis zum rechtskräftigen Beweis seiner Schuld durch das Gericht als unschuldig gilt und die Beweislast bei den Strafverfolgungsbehörden liegt, ist einer der ältesten und wichtigsten Grundsätze des Strafprozessrechts, der in allen bedeutenden internationalen und regionalen Menschenrechtsinstrumenten verbrieft ist. In Artikel 48 Absatz 1 der EU-Charta, der sich an Artikel 6 Absatz 2 EMRK und Artikel 11 Absatz 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte anlehnt, heißt es: „Jeder Angeklagte gilt bis zum rechtsförmlich erbrachten Beweis seiner Schuld als unschuldig.“

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat im Laufe der Jahre den Umfang der Unschuldsvermutung abgesteckt. Danach umfasst Artikel 6 Absatz 2 EMRK drei zentrale Bestimmungen:[15] das Recht, vor dem rechtskräftigen Urteil nicht von Behörden öffentlich als schuldig dargestellt zu werden,[16] die Regel, dass die Beweislast bei der Strafverfolgungsbehörde liegt und dass begründete Zweifel an der Schuld dem Beschuldigten zugutekommen müssen,[17] sowie das Recht des Beschuldigten, über den Tatvorwurf unterrichtet zu werden[18]. Die Unschuldsvermutung ist eine wesentliche Voraussetzung für ein faires Verfahren. Dem EGMR zufolge gefährdet jede Verletzung der Unschuldsvermutung zugleich das Recht auf ein faires Verfahren.[19] Dies gilt insbesondere für das Recht, sich nicht selbst zu belasten, das Recht, nicht mitzuwirken, sowie das Aussageverweigerungsrecht.[20]

Wie der Gerichtshof der Europäischen Union in seiner Rechtsprechung zum Recht, sich nicht selbst zu belasten, anerkannt hat,[21] sind das Bedürfnis natürlicher und juristischer Personen nach Schutz durch die Unschuldsvermutung und das Niveau des ihnen gewährten Schutzes unterschiedlich. Der Richtlinienvorschlag trägt diesen Unterschieden Rechnung und gilt daher nur für natürliche Personen.

· Die Unschuldsvermutung als Grundlage und Bindeglied der Verfahrensrechte

Die in den Rechtsinstrumenten der EU geregelten Verfahrensrechte – das Recht auf Belehrung und Unterrichtung, das Recht, die Verfahrensabläufe verstehen und ihnen folgen zu können, sowie das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand – und die Unschuldsvermutung ergänzen einander und sind untrennbar miteinander verbunden, wenn es darum geht, ein faires Verfahren zu gewährleisten und gegenseitiges Vertrauen zu begründen.

Im Stockholmer Programm wurde die Kommission ersucht, weitere Elemente von Mindestverfahrensrechten in Bezug auf Verdächtige und Beschuldigte zu prüfen. Ausdrücklich genannt wurde in diesem Zusammenhang die Unschuldsvermutung. Die Kommission schlägt jetzt eine Richtlinie zur Stärkung bestimmter, eng miteinander verbundener Aspekte der Unschuldsvermutung in Strafverfahren vor, ohne die es nicht möglich ist, die Rechtsinstrumente zu den Verfahrensrechten und zu dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung in einem Klima gegenseitigen Vertrauens erfolgreich anzuwenden. Hierdurch wird eine Rechtskultur gefördert, die auf Maßnahmen wie Untersuchungshaft nach Möglichkeit verzichtet.

· Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung auf EU-Ebene

Der Richtlinienvorschlag stellt auf bestimmte aus der Rechtsprechung des EGMR folgende Aspekte der Unschuldsvermutung ab, bei denen gemeinsame Mindestvorschriften erforderlich sind, um das Vertrauen in die Strafrechtspflege EU-weit sicherzustellen. Er bietet eine solide Grundlage für andere Rechtsinstrumente zu den Verfahrensrechten, die bereits erlassen wurden bzw. jetzt zusammen mit diesem Vorschlag vorgelegt werden.

Der Vorschlag geht auch auf das Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung ein, da dieses Recht zu den wesentlichen Verteidigungsrechten gehört und dem EGMR zufolge Teil des Rechts auf ein faires Verfahren ist.[22] Eine Stärkung dieses Rechts wird auch zur Stärkung des Rechts auf ein faires Verfahren beitragen.

Es hat sich gezeigt, dass das Niveau der Verfahrensgarantien in den Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten im Großen und Ganzen akzeptabel ist. Es scheint in diesem Bereich keine systemischen Probleme zu geben. Die rechtlichen Garantien sollten jedoch noch in einigen Punkten verbessert werden. Zudem wird die Unschuldsvermutung in der Europäischen Union insgesamt immer noch zu häufig missachtet.

(a) Keine öffentliche Bezugnahme auf die Schuld vor einer Verurteilung

Eine öffentliche Erklärung der Polizei oder der Justizbehörden, in der der Eindruck erweckt wird, dass eine Person, die noch nicht rechtskräftig verurteilt ist, schuldig ist, beschädigt den Ruf dieser Person und kann das erkennende Gericht oder die Geschworenen beeinflussen.

In Anlehnung an die Rechtsprechung des EGMR[23] wird in dem Richtlinienvorschlag festgeschrieben, dass Verdächtige oder Beschuldigte in öffentlichen Erklärungen und amtlichen Beschlüssen beispielsweise der Polizei oder der Justizbehörden nicht als schuldig dargestellt werden dürfen, solange sie nicht rechtskräftig verurteilt sind. Dies dient dem Schutz des Ansehens und der Privatsphäre der Personen, gegen die ein Strafverfahren anhängig ist.

(b) Beweislast – Zweifel an der Schuld sollten dem Verdächtigen oder Beschuldigten zugutekommen

In Strafverfahren sollte die Beweislast bei der Strafverfolgungsbehörde liegen. Jeder Zweifel an der Schuld des Verdächtigen oder Beschuldigten sollte diesem zugutegehalten werden. Dies gilt unbeschadet der Unabhängigkeit der Justiz bei der Prüfung der Schuld des Verdächtigen oder Beschuldigten. Das Urteil des Gerichts muss auf den ihm vorgelegten Beweisen beruhen und nicht auf reinen Behauptungen oder Annahmen. Der EGMR hat allerdings eingeräumt, dass die Beweislast in bestimmten, eng begrenzten Fällen auf die Verteidigung verlagert werden kann. Dementsprechend stellt die Richtlinie einen Ausgleich her zwischen dem öffentlichen Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung und der Wahrung der Verteidigungsrechte. [24]

(c) Das Aussageverweigerungsrecht – kein Zwang zur Selbstbelastung oder Mitwirkung

Das Aussageverweigerungsrecht, das Recht, sich nicht selbst zu belasten, und das Recht, nicht mitzuwirken, sind allgemein anerkannte internationale Rechte, die den Kern des fairen Verfahrens bilden.[25] Sie gewährleisten, dass ein Verdächtiger oder Beschuldigter nicht unrechtmäßig zur Beweisvorlage gezwungen werden darf, da hierdurch der Grundsatz verletzt würde, wonach die Beweislast bei der Strafverfolgung liegt.

Im Richtlinienvorschlag werden diese Grundsätze nicht nur für natürliche Personen bestätigt, sondern es werden auch besondere Sanktionen vorgesehen. Beweismittel, die unter Verletzung dieser Rechte erlangt wurden, dürfen nicht verwendet werden, es sei denn, die Verwendung dieser Beweismittel würde die Fairness des Verfahrens insgesamt nicht beeinträchtigen.

(d) Das Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung – ein gemeinsames Mindest- und Abwehrrecht

Wird eine Person in Abwesenheit verurteilt, können die Verteidigungsrechte nicht wahrgenommen werden. Der Beschuldigte kann in diesem Fall weder dem Gericht seine Sicht des Sachverhalts darlegen noch entsprechende Beweise beibringen.

Durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI[26] wurde der Schutz solcher Personen im Einklang mit den EGMR-Standards[27] in diversen anderen EU-Rechtsinstrumenten über die gegenseitige Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen durch Aufnahme eines Grunds für die Ablehnung der justiziellen Zusammenarbeit bei Nichtbeachtung bestimmter gemeinsamer Mindestnormen verbessert.

Aus dem vom EGMR entwickelten grundlegenden Recht des Angeklagten auf Teilnahme an der Verhandlung wird im Richtlinienvorschlag somit eine EU-Mindestnorm, die auch auf inländische Strafverfahren anwendbar ist. Dieses Recht unterliegt eng begrenzten Ausnahmen, die gewährleisten sollen, dass Strafverfahren nicht durch bösgläubige Beschuldigte verschleppt werden. Bei einem Verstoß gegen das Anwesenheitsrecht ist im Einklang mit der Rechtsprechung des EGMR[28] als konkrete Abhilfe vorgesehen, dass eine neue Verhandlung stattfinden muss.

3.2         Schutz für all jene, die ihn am meisten brauchen – besondere Garantien für schutzbedürftige Personen

· Wer benötigt besonderen Schutz und warum?

Im Fahrplan zur Stärkung der Verfahrensrechte von Verdächtigen oder Beschuldigten in Strafverfahren, der Teil des Stockholmer Programms ist, wird eigens auf die Situation schutzbedürftiger Verdächtiger und Beschuldigter aufmerksam gemacht: „Zur Gewährleistung eines fairen Verfahrens ist es wichtig, dass Verdächtigen oder Beschuldigten, die z. B. aufgrund ihres Alters, ihres geistigen oder ihres körperlichen Zustands nicht in der Lage sind, den Inhalt oder die Bedeutung des Verfahrens zu verstehen oder diesem zu folgen, eine besondere Aufmerksamkeit zuteil wird.“[29]

Die besonderen Bedürfnisse dieser Personen werden in internationalen Normen wie auch vom EGMR anerkannt. Eine Person kann beispielsweise schutzbedürftig sein, weil es ihr nicht möglich ist, effektiv am Strafverfahren teilzunehmen. Dem EGMR zufolge setzt eine effektive Teilnahme in diesem Kontext voraus, dass der Angeklagte versteht, um welche Art von Verhandlung es sich handelt und was für ihn auf dem Spiel steht; hierzu zählt auch die Schwere der zu gewärtigenden Strafe.[30]

Kinder gelten aufgrund ihres jungen Alters und ihrer noch nicht abgeschlossenen körperlichen, geistigen und seelischen Entwicklung per se als schutzbedürftig.[31] Darüber hinaus sind Kinder Misshandlungen und Gesundheitsproblemen stärker ausgesetzt als andere Verdächtige oder Beschuldigte. Möglicherweise sind sie nicht einmal in der Lage, ihre Schwierigkeiten oder Gesundheitsprobleme richtig zum Ausdruck zu bringen. Alle Mitgliedstaaten erkennen daher an, dass Kinder besondere Garantien und besonderen Schutz in Strafverfahren benötigen.

Bei Erwachsenen stellt sich die Lage anders dar. Es gibt viele Gründe, warum ein Erwachsener nicht in der Lage ist, effektiv am Verfahren teilzunehmen: z. B. wegen Geisteskrankheit, einer körperlichen Behinderung oder wegen einer Lernbehinderung. Es gibt in den EU-Mitgliedstaaten keine allgemeine Begriffsbestimmung für schutzbedürftige Erwachsene in Strafverfahren.

· Eine Richtlinie mit Schwerpunkt auf wesentlichen Verfahrensgarantien für Kinder

Die drei bereits erlassenen Verfahrensrechte-Richtlinien gelten für alle Verdächtigen oder Beschuldigten einschließlich Kinder. Obwohl sie eigens für Kinder bestimmte Garantien vorsehen, tragen sie den besonderen Bedürfnissen, die Kinder haben können (z. B. Schwierigkeit oder gar Unmöglichkeit, das Verfahren zu verstehen und ihm zu folgen, erhöhte Misshandlungsgefahr aufgrund ihrer Verletzlichkeit), nur unzureichend Rechnung.

Der Richtlinienvorschlag enthält folgende Garantien:

· Die Verfahrensgarantien gelten für Kinder ab dem Zeitpunkt, zu dem sie verdächtigt oder beschuldigt werden, eine Straftat begangen zu haben (Anwendungsbereich).

· Kinder erhalten bei ihrer Festnahme die Unterstützung ihrer Eltern oder anderer geeigneter Personen. Kinder und Eltern werden über ihre Rechte aufgeklärt.

· Kindern können auf ihr Recht auf Unterstützung durch einen Rechtsbeistand nicht verzichten, da die Gefahr sehr groß ist, dass sie die Folgen ihres Handelns nicht verstehen würden. Der unabdingbare Beistand durch einen Verteidiger ist die Kernbestimmung des Richtlinienvorschlags.

· Ihre persönliche und familiäre Lage und ihre Bedürfnisse werden einer Begutachtung unterzogen, bevor das Urteil ergeht. Kinder, denen die Freiheit entzogen ist, werden medizinisch untersucht. Bei ihrer Befragung während des Verfahrens wird ihrem Alter und Reifegrad Rechnung getragen. Polizeiliche Befragungen werden audiovisuell aufgezeichnet, sofern dies nicht unverhältnismäßig ist.

· Kinder dürfen nicht in Abwesenheit verurteilt werden, um sicherzustellen, dass sie nicht schuldig gesprochen werden können, ohne Gelegenheit gehabt zu haben, die Gründe für die Verurteilung zu widerlegen, dass sie die Gründe für eine mögliche Verurteilung verstehen, um einer erneuten Straffälligkeit vorzubeugen, und um ihre soziale Integration zu fördern.

· Justizbehörden, die mit Kindern zu tun haben, erhalten eine besondere Schulung. Um die Privatsphäre des Kindes zu schützen und seine Wiedereingliederung in die Gesellschaft zu erleichtern, finden Strafverfahren grundsätzlich unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt.

· Kindern wird die Freiheit nur als letztes Mittel entzogen. Sie werden getrennt von Erwachsenen untergebracht.

Im Einklang mit internationalen Vorgaben sollten für Kinder, die mit der Strafjustiz konfrontiert sind, Alternativen zum Freiheitsentzug sowie erzieherische Maßnahmen vorgesehen werden. Ihnen sollte nur im Ausnahmefall die Freiheit entzogen werden. Angesichts der naturgemäß vorhandenen Risiken für ihre körperliche, geistige und soziale Entwicklung sind Kinder, denen die Freiheit entzogen ist, besonders schutzbedürftig. Es sollten Schutzmaßnahmen vorgesehen werden, um bei Freiheitsentzug Misshandlung und Missbrauch vorzubeugen. Angesichts dieser besonderen Bedürfnisse enthält der Richtlinienvorschlag spezielle Vorschriften für den Umgang mit Kindern, denen die Freiheit entzogen worden ist.

Der Vorschlag dient der Förderung der Rechte des Kindes unter Berücksichtigung internationaler Leitlinien und Empfehlungen für eine kindgerechte Justiz. Er ist Teil der EU-Agenda für die Rechte des Kindes.[32] Der Richtlinienvorschlag berührt nicht die nationalen Vorschriften über die Strafmündigkeit.[33]

· Empfehlung der Kommission zur Anerkennung schutzbedürftiger Personen und ihrer Bedürfnisse

Warum eine Person in einem Strafverfahren aus anderen als Altersgründen schutzbedürftig sein kann, lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt nicht bestimmen. Jede Definition könnte als Stigmatisierung kritisiert werden. Dies geht aus mehreren Konsultationen und Zusammenkünften mit Interessenvertretern und Mitgliedstaaten hervor.

Gleichzeitig besteht allerdings Einvernehmen darüber, dass manche Personen besondere strafprozessuale Garantien benötigen, um dem Verfahren folgen und ihre Rechte ausüben zu können. Wenn eine Person die Verfahrensabläufe oder die Folgen ihres Handelns wie das Ablegen eines Geständnisses nicht versteht, weil ihre Schutzbedürftigkeit entweder nicht erkannt wurde oder besondere Verfahrensgarantien fehlen, führt dies zu einer „Ungleichheit der Waffen“, die ihre Aussichten auf ein faires Verfahren verringert und die Integrität der Rechtsfindung gefährdet. Wenn die EU nicht tätig wird, bleibt das Schutzniveau innerhalb der Union weiterhin uneinheitlich. Die einzige Lösung, die Verhältnismäßigkeits- und Subsidiaritätserwägungen mit der Notwendigkeit in Einklang bringt, schutzbedürftige Personen besser zu schützen, ist deshalb eine Empfehlung der Kommission zur Unterstützung der grundlegenden Rechte schutzbedürftiger Personen in Strafverfahren.

· Im Mittelpunkt der Empfehlung steht die Einführung von Begutachtungsverfahren, um schutzbedürftige Personen erkennen und anerkennen und auf ihre besonderen Bedürfnisse in Strafverfahren eingehen zu können. Die Begutachtung sollte von einem unabhängigen Sachverständigen vorgenommen werden, um sicherzustellen, dass der Grad der Schutzbedürftigkeit richtig beurteilt wird und die besonderen Bedürfnisse der betroffenen Person anerkannt werden.

· Einführung angemessener Garantien für schutzbedürftige Personen: Die Mitgliedstaaten sind aufgefordert, je nach Ergebnis der Begutachtung konkrete Schutzvorkehrungen zu treffen wie Unabdingbarkeit des Rechtsbeistands, Unterstützung durch eine geeignete dritte Person, audiovisuelle Aufzeichnung polizeilicher Befragungen und medizinische Unterstützung.

Die Empfehlung lässt den Mitgliedstaaten zwar mehr Spielraum als eine Richtlinie, wird aber dennoch zu einer Anhebung der Standards für die Verfahrensrechte schutzbedürftiger Erwachsener und zur Stärkung des gegenseitigen Vertrauens beitragen. Die Kommission wird vier Jahre nach Veröffentlichung der Empfehlung prüfen, inwieweit die Mitgliedstaaten Maßnahmen ergriffen haben, um dieser Empfehlung nachzukommen, und gegebenenfalls legislative Maßnahmen vorschlagen, um die Verfahrensrechte schutzbedürftiger Personen zu stärken.

3.3         Ein effektives Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand – das Recht auf Prozesskostenhilfe

In Anlehnung an Artikel 6 Absatz 3 Buchstabe c EMRK heißt es in Artikel 47 Absatz 3 der EU-Charta: „Personen, die nicht über ausreichende Mittel verfügen, wird Prozesskostenhilfe bewilligt, soweit diese Hilfe erforderlich ist, um den Zugang zu den Gerichten wirksam zu gewährleisten.“

Das Recht auf Prozesskostenhilfe ist eng mit dem Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand verbunden. Personen, die mittellos sind, können ihr Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand nicht effektiv ausüben, es sei denn, der Staat sorgt dafür, dass sie Prozesskostenhilfe erhalten, um sich rechtliche Unterstützung sichern zu können. Um dem Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand Geltung zu verleihen und das gegenseitige Vertrauen in die Strafrechtspflege in der Europäischen Union weiter zu stärken, muss all jenen Prozesskostenhilfe gewährt werden, die eine solche Hilfe benötigen.

Eine Richtlinie mit Schwerpunkt auf bestimmten Aspekten des Rechts auf Prozesskostenhilfe

· Prozesskostenhilfe für die Beiziehung eines Rechtsbeistands, wenn dieser am meisten benötigt wird – „vorläufige Prozesskostenhilfe“

Personen, die einer Straftat verdächtigt oder beschuldigt werden, sind im Frühstadium des Strafverfahrens, vor allem, wenn ihnen die Freiheit entzogen ist, besonders schutzbedürftig. Dem EGMR zufolge ist rechtlicher Beistand in dieser Phase zur Wahrung des Rechts auf ein faires Verfahren, wozu auch das Recht gehört, sich nicht selbst zu belasten, unverzichtbar. Nach Artikel 6 EMRK sollte ein Verdächtiger oder Beschuldigter grundsätzlich ab dem Zeitpunkt, zu dem er in Polizeigewahrsam oder in Untersuchungshaft genommen wird, den Beistand eines Verteidigers erhalten, der erforderlichenfalls von Amts wegen zu bestellen ist. Er sollte nicht bis zur Bearbeitung seines Antrags auf Prozesskostenhilfe und Prüfung der Bewilligungskriterien auf den Zugang zu einem Rechtsbeistand warten müssen.

Der Richtlinienvorschlag zum Recht auf Prozesskostenhilfe sieht daher vor, dass Verdächtige oder Beschuldigte, denen die Freiheit entzogen ist, bereits in einem frühen Stadium des Verfahrens vorläufige Prozesskostenhilfe in Anspruch nehmen können, bis die zuständige Behörde abschließend über den Antrag auf Prozesskostenhilfe entschieden hat.

· Besonderes Augenmerk auf Personen in Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls

Die Richtlinie über den Zugang zu einem Rechtsbeistand sieht vor, dass in Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls sowohl im Ausstellungs- als auch im Vollstreckungsmitgliedstaat ein Rechtsbeistand bestellt werden kann. Damit soll das Vertrauen in die Strafrechtspflege EU-weit gestärkt werden. Um dies zu erreichen, muss allerdings der Zugang zur Prozesskostenhilfe in solchen Verfahren gewährleistet sein.

Personen, die mit Europäischem Haftbefehl gesucht werden und denen im Vollstreckungsmitgliedstaat die Freiheit entzogen ist, müssen zudem vorläufige Prozesskostenhilfe in Anspruch nehmen können, damit sie nicht bis zur Bescheidung ihres Prozesskostenhilfeantrags auf einen Rechtsbeistand warten müssen.

Empfehlung zu weiteren Aspekten der Prozesskostenhilfe in Strafverfahren

· Einheitlichere Bewilligungskriterien

Aus Artikel 47 Absatz 3 der EU-Charta und Artikel 6 Absatz 3 Buchstabe c EMRK folgt, dass die Mitgliedstaaten bestimmen können, ob eine Person Anspruch auf Prozesskostenhilfe hat, weil sie nicht über ausreichende Mittel zur Bezahlung eines Rechtsbeistands verfügt (Bedürftigkeitsprüfung) und/oder weil Prozesskostenhilfe im Interesse der Rechtspflege geboten ist (z. B. wegen der Komplexität des Falls, der persönlichen Situation des Betroffenen, der Schwere der Straftat oder der zu gewärtigenden Strafte – Begründetheitsprüfung).

Wie diese Bewilligungskriterien miteinander kombiniert und bewertet werden, ist von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat höchst unterschiedlich. Einige Mitgliedstaaten prüfen lediglich die Bedürftigkeit, manche nur das Rechtspflegeinteresse, wieder andere kombinieren beide Kriterien. Auch die Kriterien der „Bedürftigkeit“ und des „Rechtspflegeinteresses“ werden sehr unterschiedlich interpretiert.

Angesichts der Bandbreite der nationalen Prozesskostenhilfesysteme und der Notwendigkeit, gerade in wirtschaftlich schwierigen Zeiten die Verhältnismäßigkeit zu wahren, werden diese Aspekte in einer Empfehlung behandelt. Die Empfehlung bietet gemeinsame objektive Kriterien für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe. Sie stellt im Einklang mit der Rechtsprechung des EGMR einen Beurteilungsrahmen bereit und fördert mit Blick auf die Stärkung des gegenseitigen Vertrauens die Konvergenz zwischen den Rechtssystemen.

· Gewährleistung der Qualität und Leistungsfähigkeit der im Rahmen der Prozesskostenhilfe erbrachten Dienstleistungen

Dem EGMR zufolge wird ein Staat seiner Verpflichtung zur Bereitstellung unentgeltlicher rechtlicher Unterstützung nicht allein dadurch gerecht, dass im Rahmen der Prozesskostenhilfe ein Rechtsbeistand beigeordnet wird.[34] Er muss auch dafür sorgen, dass dieser Rechtsbeistand konkrete und wirksame Unterstützung leistet. Zu diesem Zweck werden die Mitgliedstaaten in der Empfehlung aufgefordert, Vorkehrungen zur Gewährleistung einer hohen Qualität der im Rahmen der Prozesskostenhilfe erbrachten Leistungen zu treffen, Zulassungssysteme für Rechtsbeistände einzuführen und für eine kontinuierliche Weiterbildung der im Bereich der Prozesskostenhilfe tätigen Personen und Rechtsbeistände zu sorgen. Im Zuge der Umsetzung dieser Empfehlung wird sich so die Qualität und Leistungsfähigkeit der Prozesskostenhilfesysteme erhöhen und das Vertrauen in die Strafrechtspflege innerhalb der EU festigen.

Die Kommission wird auf die bestehende Expertengruppe für die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen zurückgreifen, um Wirkung und Anwendung dieser Empfehlung zu fördern. Diese Gruppe kann der Kommission mit der Erstellung von Leitlinien zur Anwendung der Empfehlung zuarbeiten und den Austausch bewährter Verfahren zwischen den Mitgliedstaaten erleichtern. Die Kommission wird vier Jahre nach Veröffentlichung der Empfehlung prüfen, inwieweit die Mitgliedstaaten Maßnahmen ergriffen haben, um dieser Empfehlung nachzukommen, und gegebenenfalls legislative Maßnahmen vorschlagen, um das Recht auf Prozesskostenhilfe in Strafverfahren zu stärken.

4.           Schlussfolgerung

Das Legislativpaket zu den Verfahrensrechten enthält gemeinsame Mindestnormen für das Recht auf ein faires Verfahren in der Europäischen Union. Es markiert eine weitere Etappe auf dem Weg zur Umsetzung der Agenda der Kommission zu den Verfahrensrechten. In Kombination mit dem breiten Spektrum an schon vorhandenen Rechtsinstrumenten, die mithilfe gemeinsamer Mindestvorschriften die grenzübergreifende justizielle Zusammenarbeit in einem Klima gegenseitigen Vertrauens Realität werden lassen, leistet dieses Legislativpaket einen Beitrag zur Entwicklung des europäischen Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts.

Die mit dem Lissabonner Vertrag eingeführte neue Regelung wird in Kürze ihre volle Geltung erlangen. Die Übergangsregelung für den Bereich Justiz und Inneres – die sogenannte „dritte Säule“ – läuft am 30. November 2014 aus. Ab dann verfügt die Kommission über Durchführungsbefugnisse für den gesamten Besitzstand im Bereich Justiz und Inneres. Gleichzeitig erhält der Gerichtshof der Europäischen Union die uneingeschränkte Zuständigkeit für die vor dem Vertrag von Lissabon erlassenen Rechtsinstrumente im Bereich der gegenseitigen Anerkennung. Hinzu kommt ein EU-weites Strafverfolgungssystem zum Schutz der finanziellen Interessen der EU. Damit erhält der europäische Strafrechtsraum ein neues Gesicht.

Da die Kriminalität zunehmend im internationalen Rahmen agiert, ist damit zu rechnen, dass die Zahl der Ermittlungsersuchen und der Anträge auf Vollstreckung von Entscheidungen in Strafsachen in der EU, die aus der Anwendung der zahlreichen Regelungen im Bereich der gegenseitigen Anerkennung resultieren, ansteigen wird. Umso mehr sind Fortschritte bei der EU-Agenda zu den Verfahrensrechten erforderlich. Das neue Legislativpaket sollte zügig angenommen werden.

Die in dieser Weise auf EU-Ebene festgelegten Verfahrensrechte werden nach und nach in nationales Recht umgesetzt werden. Anschließend wird eingehend geprüft werden müssen, wie das Recht auf ein faires Verfahren in der Praxis zum Tragen kommt und ob etwaige Rechtslücken zu schließen sind. Ein konsolidierter Vorschlag zu den Verfahrensrechten könnte folgen.

[1]               ABl. C 115 vom 4.5.2010, S. 1.

[2]               ABl. C 295 vom 4.12.2009, S. 1.

[3]               Richtlinie 2010/64/EU vom 20. Oktober 2010, ABl. L 280 vom 26.10.2010, S. 1-7.

[4]               Richtlinie 2012/13/EU vom 22. Mai 2012, ABl. L 142 vom 1.6.2012, S. 1-10.

[5]               Richtlinie 2013/48/EU vom 22. Oktober 2013, ABl. L 294 vom 6.11.2013, S. 1-12.

[6]               Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten, ABl. L 190 vom 18.7.2002, S. 1-18.

[7]               http://ec.europa.eu/justice/newsroom/criminal/opinion/110614_en.htm

[8]               Artikel 6 Absatz 1 EUV.

[9]               Artikel 6 Absatz 3 EUV.

[10]             Erwägungsgrund 10, ABl. C 295 vom 4.12.2009, S. 1.

[11]             Eurostat, Statistiken zu Wanderungsströmen und Migrantenbevölkerung (März 2013).

[12]             Eurobarometer 337/2010.

[13]             Vgl. u. a. die Leitlinien des Ministerkomitees des Europarates für eine kindgerechte Justiz.

[14]             Vorschlag für eine Verordnung des Rates über die Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft, COM(2013) 534 final vom 17.7.2013.

[15]             Barberà, Messegué und Jabardo gegen Spanien, Urteil vom 6.12.1988, Beschwerden Nrn. 10588/83, 10589/83 und 10590/83.

[16]             Minelli gegen Schweiz, Beschwerde Nr. 8660/79, Urteil vom 25. März 1983.

[17]             Vgl. Fußnote 14.

[18]             Dieses Recht ist Gegenstand der Richtlinie 2012/13/EU vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren.

[19]             John Murray gegen Vereinigtes Königreich, Beschwerde Nr. 18731/91, Urteil vom 26. Januar 1996.

[20]             Murray gegen Vereinigtes Königreich, siehe oben; Funke gegen Frankreich, Beschwerde Nr. 10828/84, Urteil vom 25. Februar 1993, Saunders gegen Vereinigtes Königreich, Beschwerde Nr. 19187/91, Urteil vom 17. Dezember 1996.

[21]             Vgl. u. a. Rs. C-301/04 P, Kommission/SGL Carbon, Slg. 2006, I-5915, und Rs. T-112/98, Mannesmannröhren-Werke/Kommission, Slg. 2001, II-732.

[22]             Colozza gegen Italien, Beschwerde Nr. 9024/80, Urteil vom 12. Februar 1985.

[23]             Minelli gegen Schweiz, Beschwerde Nr. 8660/79, Urteil vom 25. März 1983; Allenet de Ribemont gegen Frankreich, Beschwerde Nr. 15175/89, Urteil vom 10. Februar 1995; Pandy gegen Belgien, Beschwerde Nr. 13583/02, Urteil vom 21. September 2006; Garlicki gegen Polen, Beschwerde Nr. 36921/07, Urteil vom 14. Juni 2011.

[24]             Salabiaku gegen Frankreich, Beschwerde Nr. 10519/83, Urteil vom 7. Oktober 1988; Barberà, Messegué und Jabardo gegen Spanien, Beschwerde Nr. 10590/83, Urteil vom 6. Dezember 1988.

[25]             Heaney und McGuiness gegen Irland, Beschwerde Nr. 34720/97, Urteil vom 21. Dezember 2000.

[26]             Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 zur Änderung der Rahmenbeschlüsse 2002/584/JI, 2005/214/JI, 2006/783/JI, 2008/909/JI und 2008/947/JI, ABl. L 81 vom 27.3.2009, S. 24-36.

[27]             Colozza gegen Italien, Beschwerde Nr. 9024/80, Urteil vom 12. Februar 1985.

[28]             Vgl. Fußnote 25.

[29]             ABl. C 295 vom 4.12.2009, S. 1.

[30]             S.C. gegen Vereinigtes Königreich, Beschwerde Nr. 60958/00, Urteil vom 10. November 2004.

[31]             Nach Artikel 1 des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes, das von allen Mitgliedstaaten und der EU ratifiziert worden ist, gilt als Kind, wer das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat.

[32]             Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen, KOM(2011) 60 endg. vom 15.2.2011.

[33]             Ab diesem Alter kann ein Kind für seine Handlungen strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden.

[34]             Pavlenko gegen Russland, Beschwerde Nr. 42371/02, Urteil vom 4. Oktober 2010, Ziff. 99.

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