31989L0618

Richtlinie 89/618/Euratom des Rates vom 27. November 1989 über die Unterrichtung der Bevölkerung über die bei einer radiologischen Notstandssituation geltenden Verhaltensmaßregeln und zu ergreifenden Gesundheitsschutzmaßnahmen

Amtsblatt Nr. L 357 vom 07/12/1989 S. 0031 - 0034
Finnische Sonderausgabe: Kapitel 15 Band 9 S. 0137
Schwedische Sonderausgabe: Kapitel 15 Band 9 S. 0137


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RICHTLINIE DES RATES

vom 27. November 1989

über die Unterrichtung der Bevölkerung über die bei einer radiologischen Notstandssituation geltenden Verhaltensmaßregeln und zu ergreifenden Gesundheitsschutzmaßnahmen

(89/618/Euratom)

DER RAT DER EUROPÄISCHEN

GEMEINSCHAFTEN -

gestützt auf den Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft, insbesondere auf Artikel 31,

auf Vorschlag der Kommission im Anschluß an die Stellungnahme einer Gruppe von Persönlichkeiten, die der Ausschuß für Wissenschaft und Technik gemäß dem genannten Artikel aus wissenschaftlichen Sachverständigen der Mitgliedstaaten ernannt hat,

nach Stellungnahme des Europäischen Parlaments (1),

nach Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses (2),

in Erwägung nachstehender Gründe:

Nach Artikel 2 Buchstabe b) des Vertrages hat die Gemeinschaft einheitliche Sicherheitsnormen für den Gesundheitsschutz der Bevölkerung und der Arbeitskräfte aufzustellen.

Am 2. Februar 1959 hat der Rat Richtlinien zur Festlegung der Grundnormen für den Gesundheitsschutz der Bevölkerung und der Arbeitskräfte gegen die Gefahren ionisierender Strahlungen (3), zuletzt geändert durch die Richtlinie 80/836/Euratom (4) und die Richtlinie 84/467/Euratom (5), erlassen.

Nach Artikel 24 der Richtlinie 80/836/Euratom ist jeder Mitgliedstaat verpflichtet, für eine angemessene Unterrichtung der strahlenexponierten Arbeitskräfte auf dem Gebiet des Strahlenschutzes zu sorgen.

Nach Artikel 45 Absatz 4 der genannten Richtlinie ist jeder Mitgliedstaat verpflichtet, im Hinblick auf etwaige Unfälle die Interventionsschwellen sowie die von den zuständigen Behörden zu treffenden Maßnahmen und die zum Schutz und zur Erhaltung der Volksgesundheit erforderlichen Interventionsdienste mit entsprechender personeller und materieller Ausstattung vorzusehen.

Auf Gemeinschaftsebene bedarf es einer neuen ergänzenden Unterrichtung der Öffentlichkeit zusätzlich zu den Bereichen, die bereits durch Artikel 6 Absatz 2 der Richtlinie 85/337/EWG des Rates vom 27. Juni 1985 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten (6) und Artikel 8 Absatz 1 der Richtlinie 82/501/EWG des Rates vom 24. Juni 1982 über die Gefahren schwerer Unfälle bei bestimmten Industrietätigkeiten (7), zuletzt geändert durch die Richtlinie 88/610/EWG (8) abgedeckt sind.

Alle Mitgliedstaaten haben das Übereinkommen der Internationalen Atomenergie-Organisation (IÄO) über die frühzeitige Benachrichtigung bei nuklearen Unfällen unterzeichnet.

Die Entscheidung 87/600/Euratom des Rates vom 14. Dezember 1987 über Gemeinschaftsvereinbarungen für den beschleunigten Informationsaustausch im Fall einer radiologischen Notstandssituation (9) fordert, daß jeder Mitgliedstaat, der Notfallmaßnahmen zum Schutz der Bevölkerung beschließt, und zwar nach Feststellung anomal erhöhter Radioaktivitätswerte in der Umwelt oder nach einem Unfall, der in signifikantem Masse zur Freisetzung von radioaktiven Stoffen führt oder führen kann, die Kommission und die Mitgliedstaaten, die betroffen sind oder sein könnten, von den ergriffenen oder geplanten Schutzmaßnahmen sowie von den ergriffenen oder geplanten Maßnahmen zur Unterrichtung der Bevölkerung in Kenntnis setzt.

Einige Mitgliedstaaten haben bereits bilaterale Abkommen über die Information, Koordinierung und gegenseitige Hilfeleistung bei einem nuklearen Unfall abgeschlossen.

Im Hinblick auf die Möglichkeit eines Unfalls in einer Kernanlage eines Mitgliedstaates sollte ein angemessenes Verhalten der betroffenen Bevölkerung gefördert werden, das geeignet ist, zur Wirksamkeit der getroffenen oder geplanten Notfallmaßnahmen beizutragen.

Die Bevölkerungsgruppen, die von einer radiologischen Notstandssituation betroffen sein könnten, müssen daher im voraus und fortlaufend in angemessener Weise über die für sie vorgesehenen Gesundheitsschutzmaßnahmen sowie über die Verhaltensmaßregeln im Fall einer radiologischen Notstandssituation unterrichtet werden; es erscheint somit erforderlich, auf Gemeinschaftsebene bestimmte gemeinsame Grundsätze und besondere Bestimmungen für die Unterrichtung dieser Bevölkerungsgruppen vorzusehen.

Ausserdem sollten gemeinsame Grundsätze und besondere Bestimmungen für die entsprechende Unterrichtung der tatsächlich betroffenen Bevölkerung im Falle einer tatsächlichen radiologischen Notstandssituation erarbeitet werden.

Bei den Informationsmaßnahmen muß auch der Situation der in den Grenzgebieten lebenden Bevölkerung Rechnung getragen werden.

Zudem ist eine Verstärkung der Maßnahmen und Praktiken anzustreben, die bereits auf einzelstaatlicher Ebene im Falle einer radiologischen Notstandssituation zur Unterrichtung der Bevölkerung vorgesehen sind -

HAT FOLGENDE RICHTLINIE ERLASSEN:

TITEL I

Zielsetzung und Begriffsbestimmungen

Artikel 1

Mit dieser Richtlinie sollen gemeinschaftsweit gemeinsame Ziele im Hinblick auf die Maßnahmen und Verfahren zur Unterrichtung der Bevölkerung festgelegt werden, um deren Gesundheitsschutz bei einer radiologischen Notstandssituation wirksam zu verbessern.

Artikel 2

Für die Anwendung dieser Richtlinie gilt als radiologische Notstandssituation jede Situation.

1. nach

a) einem Unfall im Gebiet eines Mitgliedstaats, durch den Anlagen oder Tätigkeiten im Sinne von Nummer 2 betroffen sind und der in signifikantem Masse zur Freisetzung von radioaktiven Stoffen führt oder führen kann,

oder

b) der Feststellung anomaler Radioaktivitätswerte innerhalb oder ausserhalb seines Gebietes, die für die öffentliche Gesundheit in diesem Mitgliedstaat schädlich sein könnten,

oder

c) anderen als den in Buchstabe a) genannten Unfällen, durch die Anlagen oder Tätigkeiten im Sinne von Nummer 2 betroffen sind und die in signifikantem Masse zur Freisetzung von radioaktiven Stoffen führen oder führen können,

oder

d) anderen Unfällen, die in signifikantem Masse zur Freisetzung von radioaktiven Stoffen führen oder führen können;

2. die durch die in Nummer 1 unter den Buchstaben a) und c) genannten Anlagen oder Tätigkeiten verursacht wird; dabei handelt es sich um

a) Kernreaktoren jedweden Standorts;

b) sonstige Anlagen des Brennstoffkreislaufs;

c) Anlagen zur Entsorgung radioaktiver Abfälle;

d) Beförderung und Lagerung von Kernbrennstoffen oder radioaktiven Abfällen;

e) Herstellung, Verwendung, Lagerung, Beseitigung und Beförderung von Radioisotopen für landwirtschaftliche, industrielle, medizinische und verwandte wissenschaftliche und Forschungszwecke

und

f) Verwendung von Radioisotopen zur Energieerzeugung in Weltraumobjekten.

Artikel 3

Hinsichtlich der Anwendung dieser Richtlinie gelten die Formulierungen »Freisetzung von radioaktiven Stoffen in signifikantem Masse" und »anomale Radioaktivitätswerte, die für die öffentliche Gesundheit schädlich sein könnten" für Situationen, bei denen es für Einzelpersonen der Bevölkerung zu einer Überschreitung der Dosisgrenzwerte kommen kann, die nach den Richtlinien zur Festlegung der gemeinschaftlichen Grundnormen für den Strahlenschutz (1) zulässig sind.

Artikel 4

Im Sinne dieser Richtlinie gilt als

a) Bevölkerung, die im Falle einer radiologischen Notstandssituation betroffen sein könne,

jede Bevölkerungsgruppe, für die von den Mitgliedstaaten Einsatzpläne für den Fall einer radiologischen Notstandssituation erarbeitet wurden;

b) im Falle einer radiologischen Notstandssituation tatsächlich betroffene Bevölkerung,

jede Bevölkerungsgruppe, für die im Falle des Eintretens einer radiologischen Notstandssituation gezielte Schutzmaßnahmen zur Anwendung gelangen.

TITEL II

Vorherige Unterrichtung

Artikel 5

(1) Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, daß die Bevölkerung, die bei einer radiologischen Notstandssituation betroffen sein könnte, über die für sie geltenden Gesundheitsschutzmaßnahmen sowie über die entsprechenden Verhaltensmaßregeln im Fall einer radiologischen Notstandssituation unterrichtet wird.

(2) Die übermittelten Informationen enthalten mindestens die in Anhang I genannten Angaben.

(3) Die Informationen werden der in Absatz 1 bezeichneten Bevölkerung unaufgefordert übermittelt.

(4) Diese Informationen werden von den Mitgliedstaaten auf den neusten Stand gebracht und regelmässig übermittelt, und zwar auch, wenn sich bedeutsame Änderungen hinsichtlich der vorgesehenen Maßnahmen ergeben. Diese Informationen müssen der Öffentlichkeit ständig zugänglich sein.

TITEL III

Unterrichtung bei einer radiologischen Notstandssituation

Artikel 6

(1) Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, daß die tatsächlich betroffene Bevölkerung bei einer radiologischen Notstandssituation unverzueglich über die Einzelheiten der Notstandssituation unterrichtet und an die für sie geltenden Verhaltensmaßregeln erinnert wird sowie entsprechend dem jeweiligen Fall genaue Hinweise für die zu ergreifenden Gesundheitsschutzmaßnahmen erhält.

(2) Die entsprechenden Mitteilungen erstrecken sich auf diejenigen der in Anhang II aufgeführten Punkte, die nach Maßgabe der Art der radiologischen Notstandssituation relevant sind.

TITEL IV

Unterrichtung der Personen, die im Falle einer radiologischen Notstandssituation bei Rettungsmaßnahmen eingesetzt werden können

Artikel 7

(1) Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, daß die Personen, die zwar nicht zum Personal der Anlagen im Sinne des Artikels 2 Nummer 2 gehören und/oder an den Tätigkeiten im Sinne des Artikels 2 Abschnitt B nicht beteiligt sind, die jedoch bei Rettungsmaßnahmen im Falle einer radiologischen Notstandssituation eingesetzt werden können, über die Risiken, die ihr Einsatz für ihre Gesundheit mit sich bringen würde, und über die Vorsichtsmaßnahmen, die in einem solchen Fall zu treffen sind, in angemessener Weise unterrichtet werden: die entsprechenden Informationen werden regelmässig auf den neuesten Stand gebracht und tragen den verschiedenen Fällen radiologischer Nostandssituationen Rechnung, die eintreten können.

(2) Die vorgenannten Informationen werden, sobald eine radiologische Notstandssituation eintritt, entsprechend den besonderen Umständen des jeweiligen Falles durch geeignete Informationen ergänzt.

TITEL V

Verfahren zur Durchführung

Artikel 8

Bei den in den Artikeln 5, 6 und 7 genannten Informationen wird auch angegeben, welche Behörden für die Anwendung der in diesen Artikeln genannten Maßnahmen zuständig sind.

Artikel 9

Die Verfahren für die Übermittlung der in den Artikeln 5, 6 und 7 genannten Informationen sowie der Empfängerkreis (natürliche und juristische Personen) werden im Rahmen eines jeden Mitgliedstaates festgelegt.

Artikel 10

(1) Die in Artikel 5 genannten Informationen werden der Kommission auf Verlangen übermittelt; es steht den Mitgliedstaaten frei, diese Informationen an andere Staaten weiterzuleiten.

(2) Die von einem Mitgliedstaat gemäß Artikel 6 erteilte Information wird der Kommission sowie den Mitgliedstaaten übermittelt, die betroffen sind oder betroffen sein könnten.

(3) Die im Falle einer radiologischen Notstandssituation vorgesehenen geeigneten Informationen nach Artikel 7 werden der Kommission auf Verlangen so bald wie möglich, soweit die Umstände es erlauben, übermittelt.

TITEL VI

Schlußbestimmungen

Artikel 11

Es bleibt den Mitgliedstaaten unbenommen, Maßnahmen anzuwenden oder zu erlassen, die eine Unterrichtung zusätzlich zu der in dieser Richtlinie festgelegten Unterrichtung vorsehen.

Artikel 12

Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, um dieser Richtlinie spätestens vierundzwanzig Monate nach ihrer Genehmigung nachzukommen. Sie setzen die Kommission unverzueglich davon sowie von etwaigen späteren Änderungen in Kenntnis.

Artikel 13

Diese Richtlinie ist an die Mitgliedstaaten gerichtet.

Geschehen zu Brüssel am 27. November 1989.

Im Namen des Rates

Der Präsident

R. DUMAS

(1) ABl. Nr. C 158 vom 26. 6. 1989, S. 403.

(2) ABl. Nr. C 337 vom 31. 12. 1988, S. 67.

(3) ABl. Nr. 11 vom 20. 2. 1959, S. 221/59.

(4) ABl. Nr. L 246 vom 17. 9. 1980, S. 1.

(5) ABl. Nr. L 265 vom 5. 10. 1984, S. 4.

(6) ABl. Nr. L 175 vom 5. 7. 1985, S. 40.

(7) ABl. Nr. L 230 vom 5. 8. 1982, S. 1.

(8) ABl. Nr. L 336 vom 7. 12. 1988, S. 14.

(9) ABl. Nr. L 371 vom 30. 12. 1987, S. 76.

(1) Siehe insbesondere Artikel 12 der Richtlinie 80/836/Euratom.

ANHANG I

Vorherige Unterrichtung nach Artikel 5

1. Grundbegriffe der Radioaktivität und Auswirkungen der Radioaktivität auf den Menschen und auf die Umwelt.

2. Berücksichtigte radiologische Notstandssituationen und ihre Folgen für Bevölkerung und Umwelt.

3. Geplante Notfallmaßnahmen zur Warnung, zum Schutz und zur Rettung der Bevölkerung bei einer radiologischen Notstandssituation.

4. Geeignete Informationen darüber, wie sich die Bevölkerung bei einer radiologischen Notstandssituation verhalten sollte.

ANHANG II

Unterrichtung bei einer radiologischen Notstandssituation nach Artikel 6

1. Entsprechend den zuvor in den Mitgliedstaaten erstellten Einsatzplänen erhält die tatsächlich betroffene Bevölkerung im Falle einer radiologischen Notstandssituation rasch und wiederholt

a) Informationen über die eingetretene Notstandssituation und nach Möglichkeit über deren Merkmale (wie Ursprung, Ausbreitung, voraussichtliche Entwicklung);

b) Schutzanweisungen, die je nach Fall

- insbesondere folgende Punkte umfassen können: Beschränkung des Verzehrs bestimmter möglicherweise verseuchter Nahrungsmittel; einfache Hygiene- und Dekontaminationsregeln; Verbleiben im Haus; Verteilung und Verwendung von Schutzwirkstoffen; Vorkehrungen für den Fall der Evakuierung;

- gegebenenfalls mit Sonderanweisungen für bestimmte Bevölkerungsgruppen verbunden werden können;

c) Empfehlungen zur Zusammenarbeit im Rahmen der Anweisungen und Aufrufe der zuständigen Behörden.

2. Geht der Notstandssituation eine Vorwarnstufe voraus, so muß die Bevölkerung, die im Falle einer radiologischen Notstandssituation möglicherweise betroffen sein wird, bereits auf dieser Stufe Informationen und Anweisungen erhalten - wie z. B.:

- die Aufforderung, Rundfunk- oder Fernsehgeräte einzuschalten;

- vorbereitende Anweisungen für Einrichtungen, die besondere Gemeinschaftsaufgaben zu erfuellen haben;

- Empfehlungen für besonders betroffene Berufszweige.

3. Ergänzend zu diesen Informationen und Anweisungen werden je nach verfügbarer Zeit die Grundbegriffe der Radioaktivität und ihre Auswirkungen auf den Menschen und die Umwelt in Erinnerung gerufen.